Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August 2023

Stellungnahme der Vorsitzenden Gisela Rüdiger zum Zugangsverbot zur Gedenkstätte am 23. August 2023

Warum ist uns der 23.August als Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus so wichtig. Und warum sind wir schockiert, dass uns der Zugang zur Gedenkstätte Leistkowstaße an diesem Tag versperrt wurde?
Am 23. August sollte wie jedes Jahr in Potsdam eine Gedenkveranstaltung anlässlich des Europäischen Tages des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus stattfinden. Memorial Deutschland und der Verein Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis hatten dazu einladen wollen. Prominente Redner, wie die lettische Botschafterin und der Oberbürgermeister der Brandenburgischen Hauptstadt hatten zugesagt. Aber sie mussten an einen anderen Ort ausweichen.
Der Ablauf des diesjährigen Gedenktages
Anlässlich des „Europäischen Gedenktages für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ am 23. August 2023 hatten die Vereine Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis und MEMORIAL Deutschland alle Interessierten zu einer Gedenkveranstaltung nach Potsdam eingeladen.
Diese fand ab 18.00 Uhr mit einem Stillen Gedenken am ehemaligen KGB-Gefängnis in der Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße 1 in Anwesenheit I.E. der Botschafterin der Republik Lettlands, Alda Vanaga, statt. Dr. Anke Giesen vom Vorstand der neu in Genf gegründeten “Internationalen Vereinigung Memorial”, nachdem Putin ihre Dachorganisation in Moskau kriminalisiert hat, sprach Worte zum Stillen Gedenken. Daran anschließend musste die Veranstaltung im Saal des Gärtnerhauses der Villa Lepsius gegenüber der Gedenkstätte fortgeführt werden. Die Gedenkstätte war den Veranstaltern nicht zugänglich gemacht worden. Die Botschafterin der Republik Lettland, Alda Vanaga, hielt den Vortrag zum Thema: „Die Folgen der sowjetischen und nationalsozialistischen Besatzung auf das Schicksal Lettlands“. Nach der Begrüßung durch die Vereinsvorsitzende Gisela Rüdiger sprachen der Oberbürgermeister der Stadt Potsdam Mike Schubert sowie der Bundesvorsitzende der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. Dieter Dombrowski Grußworte.
100 Gäste haben sich dem Gedenken angeschlossen. Der Saal war übervoll. 
Durch zahlreich anwesende Vertreter und Vertreterinnen der medialen Öffentlichkeit  wurde das Anliegen, das mit dem Europäischen Gedenktag verbunden ist, unterstützt:
Evelyn Zupke, die SED-Opferbeauftragte beim Bundestag,  Dr. Anna Kaminsky, Direktorin der Stiftung Aufarbeitung, Dr. Maria Nooke, Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, Reinhard Klaus, Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-1950, Herr Krikowski Sprecher der Lagergemeinschaft Workuta/GULag Sowjetunion, Lore Siebert, Tochter der ehem inhaftierten Marlise Steinert, Linda Teuteberg, Mitglied des Deutschen Bundestages,Yadir Salazar-Mejia, Botschafterin Kolumbiens, Jörg Morré, Direktor Museum Berlin-Karlshorst,  Dr. Heike Dörrenbächer, Abteilungsleiterin Erinnerungskultur, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., Rimgail? Jankauskien?, Botschaftsrätin Litauens, Catalina Cullas, Botschafterin des Auswärtigen Amtes für Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten der EU.
Weder Prof. Dr. Axel Drecoll, noch der Staatssekretär Herr Tobias Dünow, noch Frau Dr. Ines Reich, die Leiterin der Gedenkstätte Leistikowstraße, die alle beim Stillen Gedenken dabei waren, kamen mit in das„Ausweichquartier“, in dem die Veranstaltung mit den Ansprachen und dem Vortrag der Botschafterin fortgesetzt werden mussten, weil die Gedenkstätte dafür blockiert worden war.
Niemand seitens des Landes Brandenburg oder der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten begrüßten die Botschafterin und die Gäste.
Das Verbot
Der Zugang zur Gedenkstätte Leistikowstraße für eine Gedenkveranstaltung wurde uns in diesem Jahr und für die folgenden Jahre, wie Frau Dr. Reich am 1. Juni 2023 mündlich und schriftlich mitteilte, von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten verwehrt. Ihr Direktor Prof. Dr. Axel Drecoll hatte demnach entschieden, dass der Europäische Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus nicht auf dem Gelände und den Gebäuden der Potsdamer Gedenkstätte in der Leistikowstraße am Standort des ehemaligen KGB-Gefängnisses in Potsdam durchgeführt werden darf. Deshalb mussten wir für unsere Veranstaltung einen Ausweichstandort anmieten. 
Bis zum 11. Juli 2023 war unseren Vereinen selbst ein Stilles Gedenken auf dem Hof der Gedenkstätte Leistikowstraße nicht erlaubt. Dann kam zumindest die Zusage von Prof. Dr. Axel Drecoll, dem Direktor der Brandenburgischen Gedenkstätten, dass wir zumindest das Stille Gedenken auf dem Außengelände zu folgenden Bedingungen durchführen dürften. Er schrieb uns:„ Zu Ihrem Anliegen, ein „stilles Gedenken” durchzuführen: Wir möchten Ihnen diesen Wunsch in diesem Jahr nicht verwehren. Wir sind damit einverstanden, unter der Voraussetzung, dass es sich nicht um eine öffentliche Veranstaltung handeln darf. Das bedeutet:
· dass Einladungen nur vereinsintern erfolgen
· kein darüber hinaus gehender Kreis an Personen geladen wird, auch keine Vertreter/Vertreterinnen der Presse bzw. der medialen Öffentlichkeit
· außerdem müssen wir Sie darum bitten, dieses stille Gedenken innerhalb der Öffnungszeiten der Gedenkstätte durchzuführen“
Diese Auflagen konnten und wollten wir nicht akzeptieren. Nach Gesprächen, Briefen und e-mails wurde uns dann zuguterletzt erlaubt, mit allen von uns geladenen Gästen und Journalisten das Stille Gedenken durchzuführen.
Die Bedeutung des Europäischen Gedenktages
Weshalb ist es für unseren Verein so wichtig ist, den Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus in der Gedenk –und Begegnungsstätte Leistikowstraßezu begehen?
Wir möchten zur Würdigung der Opfer politischer Gewalt in Europa beitragen. Es ist der einzige überregionale Gedenktag, der an die Opfer des Stalinismus erinnert. Das ehemalige Untersuchungsgefängnis in der Potsdamer Leistikowstraße ist ein authentischer Ort, an dem viele zu Unrecht rechtsstaatswidrig Inhaftierte von sowjetischen Geheimdiensten eingesperrt waren. 
Es handelt sich um einen europäischen Gedenktag und wir möchten dazu beitragen, dass dieser Gedenktag auch in Deutschland bekannter wird. Das Europaparlament hat diesen Gedenktag 2009 mit übergroßer Mehrheit seiner Abgeordneten beschlossen. Der Gedenktag wurde 2008 in der „Prager Erklärung“ vorgeschlagen. Vaclav Havel und Joachim Gauck gehören zu den Unterzeichnern dieser Erklärung. 2019 wurde in der „Entschließung des Europäischen Parlaments zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstsein für die Zukunft Europas“ die Bedeutung des alljährlich begangenen Europäischen Gedenktages am 23. August ausdrücklich hervorgehoben und nochmals bestätigt.
Welche Rolle der Europäische Gedenktag im Rahmen des Erinnerns an die Opfer von politischer Gewalt einnehmen wird, auch in Deutschland, daran möchten wir uns beteiligen. Sie wird von vielen Aspekten in der Gesellschaft und von vielen gesellschaftlichen Schichten bestimmt.
Wir denken, dass dieser Gedenktag gerade in einer Gedenkstätte zu Ehren stalinistischer Opfer im Sinne des Beschlusses des Europaparlamentes zu würdigen wäre.
Wir finden es gut, dass das Europaparlament diesen Gedenktag eingeführt hat. Wir unterstützen das Ziel, einen Tag des gemeinsamen Gedenkens an alle Opfer politischer Gewalt zu begehen, um einen Zusammenhalt und die gegenseitige Achtung zu stärken. Wir haben eine gemeinsame europäische Geschichte und wir unterstützen das Bestreben der EU, die verschiedenen europäischen Länder zusammenzubringen und näher zu bringen – natürlich bei Respektierung ihrer jeweiligen spezifischen historischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten. Es gibt aber eine Europäische Union und einen Europarat und damit auch eine gemeinsame Verantwortung zur Würdigung der verschiedenen Opfergruppen.
Ohne Erinnerung und Wahrheit kann es keine Aussöhnung geben.
Europa hat ein gemeinsames Erbe und es ist richtig, gemeinsam zu überlegen, wie damit umgegangen werden soll.
Damit sind die einzelnen Länder nicht der Pflicht entbunden, ihre eigene Verantwortung wahrzunehmen, zur eigenen Schuld zu stehen und Wiedergutmachung durchzuführen. Die Schuld Deutschlands an Millionen Opfern im Zuge des NS darf nicht heruntergespielt werden und muss klar benannt werden. Es gibt aber keine Opfer erster und zweiter Klasse.
Auch wir in Deutschland sollten alle Opfer politischer Gewalt ehren und achten. So ist der Gedenktag auch gemeint.
Unser Verein begeht nicht den Europäischen Gedenktag, weil am 23. August 1939 der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde. Niemals wird der Verein dieses Ereignisses, das nur Unheil über Europa brachte und den Zweiten Weltkrieg vorbereitete, feierlich gedenken.
Prof. Schlögel hat über die historische Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August 2019 auf dem von uns ausgerichteten „Europäischen Gedenktag“ einen umfassenden  Vortrag gehalten und dabei gesagt, dass er keinen Grund sehe, warum man den Europäischen Gedenktag in Deutschland nicht begehen sollte. Einige andere Historiker sehen das zwar anders. Es gibt aberkeineswegs eine einheitliche Ablehnung des Europäischen Gedenktags.
Die Ziele der Stiftungssatzung waren immer Grundlage unserer gesellschaftlichen, gemeinnützigen Arbeit. In der Satzung § 2 steht, dass zur Erfüllung der Stiftungszwecke besonders die Gestaltung des Gedenkens an die Opfer der Verfolgung durch die sowjetische Besatzungsmacht gehört. Das ist auch die Grundlage unseres Engagements.
Wir sind kein Verein, der die Verbrechen Nazi-Deutschlands nivellieren möchte und wir verurteilen jegliche Versuche von Rechtsaußen oder von wem sonst,dies zu tun. Den „Rechten Rand“ oder die „Neuen Rechten“ oder andere ähnliche Gruppen, wie sie auch genannt werden,  lehnen wir entschieden ab. Insofern würden alle Versuche, uns in die Rechte Ecke zu stellen, ins Leere laufen.
Bisherige Veranstaltungen am 23. August
Unsere Veranstaltungen am 23. August, die wir seit 2016 durchführen, werden immer gut angenommen (im Schnitt 70-90 Gäste). Davon zeugen auch die Grußworte. Grußworte in den vergangenen Jahren haben Reiner WalleserAbteilungsleiter vom Brandenburgischen Ministerium für Wissenschaft Forschung und Kultur (MWFK), die Landesbeauftragtezur Aufarbeitung der Folgen derkommunistisch Diktatur,  Dr. Maria Nooke und  Ulrike Poppe, ihre Vorgängerin, die Brandenburgische Landtagspräsidentin Britta Stark, der Pfarrer Stephan Krüger, die geschäftsführende stellvertretende Vorsitzende des Vereins Gegen Vergessen für Demokratie Linda Teuteberg oder die Fachbereichsleiterin Kultur und Museen der Landeshauptstadt , Dr. Birgit-Katharine Seemann, Potsdam gehalten und von der jetzigen Ministerin Dr. ManjaSchüle (zum damaligenZeitpunkt noch als SPD-Bundestagsabgeordnete) wurde ein Grußwort verlesen. Vertreter der Opferverbände wie die Union der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft (UOKG), die Lagergemeinschaft Workuta oder die Arbeitsgemeinschaft Sachsenhausen haben aus diesem Anlass Blumengestecke niedergelegt, wie auch die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, deren Leiterin , Dr. Anna Kaminski auch persönlich anwesend war.
Vorträge haben der ehemalige Sächsische Staatsminister Prof. Hans-Joachim Meyer, der Historiker Prof. Karl Schlögel, der Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der FrankfurterGedenkstättenleiter  Dr. Konrad Tschäpe, das Vorstandsmitglied von MEMORIAL International Dr. Anke Giesen und der russische Historiker Prof. Nikita Sokolow gehalten. Die Vorträge können auf unserer Webseite nachgelesen werden. 2021 haben wir statt eines Vortrages ein Gedenkkonzert durchgeführt und dabei den „Stalin Cocktail“ für Streichorchester und Cembalo von Rodion Shchedrin aufgeführt.
Durch die Invasion Russlands gegen die Ukraine, gewinnt der Gedenktag seit 2022 weiter auch an aktueller Bedeutung.
Unser Kommentar zum Verbot
Wir sind entsetzt und bestürzt, dass uns dauerhaft verboten werden soll, diesen  Gedenktag  in der Gedenkstätte Leisikowstraße  abzuhalten. Ein Verbot ist nicht die Lösung des Konfliktes. Im Gegenteil: Die Anwendung von Partizipation, Kommunikation und Moderation werden zu Recht von den Museen, Galerien und Gedenkstätten erwartet und sie werden auch von immer mehr Einrichtungen praktiziert, was Maßstäbe auch für die Leistikowstraße setzt.*
Unterstützung haben wir nun auch von der Professorin Claudia Weber von der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) erhalten, die auf einer Podiumsdiskussion im Museum Berlin-Karlshorst ihr Bedauern und ihr Unverständnis zum Ausdruck gebracht hat, dass unserem Verein die Ausrichtung des Gedenktages in der Gedenkstätte verwehrt wurde und der Direktor des Museums ,Morré, hat ihr zugestimmt.
Wir hoffen daher, dass die Mauern des Widerstandes gegen den Gedenktag weiter bröckeln.
Dazu war und ist der Beitrag des Historikers Karl Schlögel in der Märkischen Allgemeinen sehr wichtig, hat er doch eine Signalwirkung.
In der Pressemitteilung des Europaparlamentes heißt es zum 23. August als Gedenktag, dass die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas wach gehalten werden müsse, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen. Ohne Erinnerung und Wahrheit könne es keine Aussöhnung geben. Der 23. August solle daher zum europaweiten Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regime ausgerufen werden. Dieser Tag solle in Würde und unparteiisch begangen werden. Dieser Gedenktag mahnt uns immer wieder, für Demokratie, Freiheit und gegen jegliche Gewaltherrschaft in ganz Europa zu kämpfen.
Dem können wir uns nur aus vollem Herzen anschließen.

Anhang
Unser Verein: • Unser Verein, der „Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam e.V.“ (kgb-gefaengnis.de) hat sich 2003 gegründet. Die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße in Potsdam befindet sich im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der sowjetischen Geheimdienste in der Potsdamer Leistikowstraße 1. • Das ehemalige Gefängnis in der Leistikowstraße ist ein authentischer Ort, ein Zeugnis der stalinistischen Ära und darüber hinaus, an dem viele unschuldig Verfolgte eingesperrt waren und gefoltert wurden und an dem heute an sie erinnert wird. In dem Haus waren auch Verbrecher des Nationalsozialismus inhaftiert. Für diese Menschen hat der Verein keine Gedenkstätte gefordert. Der Verein bezieht in sein Gedenken niemals alle Inhaftierten des ehemaligen Gefängnisses ein, auch wenn eine Differenzierung im Einzelfall in zu Recht und zu Unrecht inhaftiert sehr schwierig sein kann und manchmal unmöglich. Auch Schuldigen steht ein rechtsstaatliches Verfahren zu und keine Folter. • MEMORIAL Deutschland e.V., Amnesty International, viele engagierte Bürger und schließlich auch unser 2003 gegründeter Verein haben das Haus nach dem Abzug der Sowjetarmee 1994 mit Unterstützung des Eigentümers, des Evangelisch-Kirchlichen Hilfsvereins, für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. An den Wochenenden haben wir ehrenamtlich das Haus geöffnet und viele Zeitzeugengespräche durchgeführt und uns für den Erhalt des ehemaligen Geheimdienstgefängnisses eingesetzt und für die Einrichtung einer Gedenkstätte stark gemacht. MEMORIAL Deutschland hat eine erste Ausstellung mit dem Titel „Von Potsdam nach Workuta“ erarbeitet, die über lange Zeit im Hause gezeigt wurde und auf der Website von MEMORIAL Deutschland e.V. noch heute zu sehen ist. Das Haus wurde 2008 geschlossen und 2012 nach denkmalgerechter Sanierung wiedereröffnet und befand sich seitdem in der Trägerschaft einer unselbständigen Stiftung öffentlichen Rechts und gehört seit dem 1. Juli 2023 zur Brandenburgischen Gedenkstättenstiftung. Bis heute organisiert der Verein Veranstaltungen, hält Beziehungen mit ehemaligen Häftlingen aufrecht und begleitet die Arbeit der Stiftung Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße. • Am 23. August 2013 hatten die Mitglieder der Zeitzeugeninitiative eine von ihnen angefertigte Bronzetafel zum Gedenken an ihre Leidensgefährten am Gebäude des ehemaligen Gefängnisses in der Leistikowstraße angebracht und in einer Feierstunde eingeweiht.

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Grußwort von OB Mike Schubert

Sehr geehrte Frau Rüdiger,
sehr geehrte Frau Dr. Giesen,
sehr geehrte Frau Botschafterin Vanaga,
sehr geehrter Herr Dombrowski,
sehr geehrte Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

der heutige Gedenktag ist den Opfern totalitärer Regime gewidmet. Millionenfaches Leid,
millionenfacher Tod verursachten die menschenverachtenden Herrschaftssysteme im
Europa des 20. Jahrhunderts.
Heute gedenken wir den Opfern.
Heute stehen die Opfer von Krieg und Gewalt des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt.
Heute zollen wir ihnen Respekt.

Das heutige Datum erinnert an die Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes am 23. August
1939 und die Aufteilung Mitteleuropas in einen deutschen und einen sowjetischen
Einflussbereich.
Damit bietet dieser Gedenktag einen Ausgangspunkt für eine intensive Beschäftigung mit
dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Er dient dazu, sich mit den Gemeinsamkeiten und
Unterschieden der totalitären Herrschaften des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen, die
Einzigartigkeit des Holocaust anzuerkennen und die sehr unterschiedlichen Motive der
verbrecherischen Regime in den Blick zu nehmen.
Diesem Gedenktag kommt die Aufgabe zu, sich der furchtbaren Geschichte Europas im 20.
Jahrhundert zu stellen mit allen Differenzen und Eigenarten.
Dieser Gedenktag soll nichts relativieren. Vielmehr soll er die Komplexität von totalitärer
Herrschaft und Gewalt betonen.

Der Blick auf die millionenfachen Opferzahlen, die Nationalismus und Stalinismus erzeugt
haben, lassen die meisten von uns erstarren. Denn wie sollen wir diese unbegreiflich hohen
Opferzahlen für unsere Vorstellung greifbar machen, um das Leid zu begreifen?
Wie kann es gelingen, das so erscheinende abstrakte Leid für uns zu konkretisieren?
Wie kann es gelingen, von einem abstrakten zu einem empathischen Gedenken zu kommen,
das die Würde der Opfer in den Mittelpunkt stellt?

So gefragt, kommen unseren Gedenkstätten eine besondere Bedeutung zu. Sie erforschen,
bewahren und vermitteln die vielen ganz konkreten Leidenswege derer, die unter den
totalitären Regimen gelitten oder gar ihr Leben verloren haben. Ihnen kommt die Aufgabe zu,
eine Verzahnung von der komplexen Geschichte mit den individuellen Schicksalen
herzustellen. Gerade unsere Gedenkstätten in der Leistikowstraße wie auch in der
Lindenstraße mit ihren sich überlagernden Zeit- und Erinnerungsschichten sind die Orte, die
Verständnis für Ideologie und Totalität und empathische Anteilnahme für die Opfer
ermöglichen. Zu diesen Einrichtungen ist selbstverständlich das Lepsiushaus mit seinem
spezifischen Fokus auf die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts hinzuzuzählen.

Meine Damen und Herren, ich bin sehr bewegt davon, wie viele der Einladung zu dem
heutigen Gedenktag gefolgt sind und dankbar für die Organisation dieser Veranstaltung.
Ich bin beeindruckt von der Anwesenheit der Botschafterinnen und Botschafter, von
Vertretenden zahlreicher Einrichtungen und Institutionen.
Sie alle sind hier, weil Sie sich der Bedeutung des heutigen Gedenktages im Klaren sind.
Viele von Ihnen haben sich zur Aufgabe gemacht, die furchtbare Vergangenheit des 20.
Jahrhunderts zu erforschen und zu vermitteln und die Erinnerung wachzuhalten. Viele von
Ihnen setzen sich mit großem Engagement für die Gedenkstättenarbeit ein. Dafür möchte ich
Ihnen ausdrücklich danken.

Schließlich möchte ich uns allen Mut machen, das Gedenken als Auftrag zu verstehen. Als
Auftrag, um mit aller Kraft und Zuversicht weiter an einem demokratisch-freiheitlich und
friedlichen Europa zu arbeiten und den derzeitigen kriegerischen Angriff Russlands letztlich
auch auf das europäische Friedenswerk abzuwehren.

Vielen Dank!

Grußwort des Bundesvorsitzenden der UOKG Dieter Dombrowski gehalten am 23.8 2023

Sehr geehrte Damen und Herren,
am 23. August 1939 stellten sich Adolf Hitler und Stalin gegenseitig eine Blanko-Vollmacht für den 2. Weltkrieg aus. Die Bezeichnung dieses Paktes als Nichtangriffsvertrag war eine Irreführung der Weltöffentlichkeit. In Wirklichkeit enthielt er die Zusage der Sowjetunion, Polen bei einem deutschen Überfall nicht zur Seite zu stehen. Darüber hinaus versprach die Sowjetunion, sich an keinem gegen Deutschland gerichteten Bündnis zu beteiligen. Deutschland war aus dem Völkerbund ausgetreten. Die Sowjetunion gedachte, ihren Verpflichtungen zur Friedenssicherung nicht nachzukommen. Damit hatte Hitler in Osteuropa freie Hand für seine Angriffspläne.
Wolfgang Leonhardt, damals 17-jähriger Kommunist in Moskau, hat erzählt, welche Bedeutung der Pakt für Stalin hatte. Er sollte eine Freundschaft unter Diktatoren begründen, die über Jahrzehnte hielt: Bereits in den nächsten Tagen wurden die Jugendheime der deutschen Exil-Kommunisten in der Sowjetunion aufgelöst. Aus den öffentlichen Bibliotheken wurden in Blitzaktionen deutsche antifaschistische Bücher entfernt. Statt der antifaschistischen deutschen Zeitungen konnte man nun nationalsozialistische Publikationen lesen. Bis 1941 lieferte die Sowjetunion mehr als 400 deutsche Flüchtlinge an die Gestapo aus. Viele von ihnen fanden den Tod in den faschistischen Lagern. Die Sowjetunion lieferte bis Mitte 1941 an Deutschland Getreide, Eisenerz, Mineralöl sowie seltene Metalle und unterlief damit die Seeblockade der Alliierten seit Herbst 1939. Das letzte deutsch-sowjetische Wirtschaftsabkommen stammt vom Januar 1941. Als die Wehrmacht am 22. Juni 1941 die neuen Westgrenzen der Sowjetunion überschritt, rollten ihnen noch die Züge mit Exportgütern für Deutschland entgegen.
Die Entscheidung Stalins, mit Hitler zusammenzugehen, war nicht spontan aus einer gefährlichen aktuellen Situation geboren. Sie war Ergebnis gemeinsamer Politik seit 1922, die auf eine gewaltsame Revision der politischen Ordnung von Versailles zielte. Dazu musste Polen wieder von der Landkarte verschwinden. Die baltischen Staaten – das wird in der deutschen Geschichtsbetrachtung oft vergessen – sollten „heim ins russische Reich“ geholt werden, das sich nun Sowjetunion nannte. Finnland wurde der sowjetischen „Interessensphäre“ zugeschlagen.
Im Geheimen Zusatzprotokoll zum sogenannten Nichtangriffspakt kann man genau dies nachlesen. Zwei Diktatoren maßten sich an, Grenzen und Geschichte, Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit von Millionen Menschen neu zu bestimmen. Sie entschieden mit einem Federstrich über Leben und Sterben von hunderttausenden Menschen. Das sowjetische Ziel bestand darin, die Gebiete des russischen Reiches seit seiner größten Ausdehnung wieder zu beherrschen. Hitler wollte ganz Europa.
Im Herbst 1939 befand sich Stalin in keiner Zwangslage. Er konnte frei wählen. Noch im Juli unterbreiteten die Briten und Franzosen der Sowjetunion das Angebot eines antideutschen Beistandspaktes. Der Westen konnte nichts versprechen, außer womöglich Hitlers weitere Expansion zu verhindern. Hitler dagegen versprach reale Geländegewinne am westlichen Rand der Sowjetunion. Stalin sah das bessere Angebot bei Hitler und griff zu.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen wartete die Sowjetunion, bis die polnischen Truppen weitgehend vernichtet waren und besetzte dann – wie abgesprochen – die östlichen Teile Polens. Am 22. September 1939 feierten die deutschen und sowjetischen Truppen in Brest-Litowsk ihren Sieg über Polen mit einer gemeinsamen Militärparade. Die Deutsche Wochenschau dokumentierte die Veranstaltung mit den neuen Waffenbrüdern.
Nur zwei Tage später erpresste die Sowjetunion die souveränen, demokratischen Staaten Estland, Lettland, Litauen und Finnland mit der Forderung, entweder Stützpunkte in ihren Ländern zuzulassen oder einen Einmarsch sowjetischer Truppen zu erdulden. Finnland, das sich der Erpressung nicht beugen wollte, wurde Ende November 1939 mit Krieg überzogen. Die drei baltischen Staaten stimmten notgedrungen der Errichtung von sowjetischen Militärstützpunkten zu. Doch die Sowjetunion gab sich damit nicht zufrieden. Mitte Juni 1940 erfolgte der Einmarsch in alle drei Staaten. Die Okkupation begann – daran sollte hier einmal ausdrücklich erinnert werden – mit dem Abschuss eines zivilen Passagierflugzeuges.
Die besetzten Gebiete dienten als Blaupause und Übungsterrain für die Besetzungen, die nach dem Sieg über Hitler folgen sollten: Dazu gehörten unnachsichtige Repressionen gegen vermutete und wirkliche Gegner, Mord und Zwangsumsiedelung ganzer Bevölkerungsteile, die Installation pseudodemokratischer Institutionen und Regierungen.
Den Preis für die Einigung der beiden Diktatoren bezahlten die Menschen in den besetzten Gebieten. Hier errichteten zuerst die sowjetischen Truppen ihre Herrschaft, dann kamen die Deutschen. Sie wurden oft irrtümlich als Befreier begrüßt. Doch ihre Schreckensherrschaft ließ die Realitäten schnell erkennen. Schließlich kamen wieder die sowjetischen Herrscher – und sie blieben anscheinend für die Ewigkeit.
Wenn wir also den 23. August als Gedenktag begehen, geht es uns um eine Dimension des 2. Weltkrieges, die in Deutschland zu wenig bedacht wird. Die deutsche historische Erinnerung ist zu Recht geprägt von der Urheberschaft am 2. Weltkrieg und damit auch von der Befreiung durch die Alliierten vom Terrorsystem des Nationalsozialismus. Der 23. August weitet demgegenüber den Blick auf die Opfer der imperialen Interessen der Sowjetunion, die sie ohne einen Pakt mit Deutschland nicht hätte umsetzen können.
Aus unseren jahrzehntelangen Erfahrungen mit Tausenden von Opfern der kommunistischen Gewaltherrschaft heraus schließen wir uns den Abgeordneten des Europaparlamentes an. Sie bekundeten am 4. April 2009 ihren „Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regime in Europa und bezeugen ihre Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben”.
Wir, die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft unterstützen ausdrücklich die Zielrichtung des Beschlusses des Europaparlaments, der besagt: „dass Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Nazismus, Stalinismus und faschistische sowie kommunistische Regime als gemeinsames Erbe anerkennt und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über deren Verbrechen im vergangenen Jahrhundert führt.“1
Lassen Sie mich aus der Perspektive eines Verbandes etwas hinzufügen, der seit einer Generation die Opfer einer Diktatur vertritt:
Die nationalsozialistische Gewaltherrschaft ging vor fast 80 Jahren zu ende. Vor 34 Jahren zerbrach die kommunistische Diktatur. Die Folgen des Holocaust, der Konzentrationslager, Speziallager, Zwangsarbeiterlager, der Repressionen durch die Geheimpolizeien, der Vertreibungen, Umsiedelungen, des Sterbens in den Schützengräben und Bombennächten sind bis heute spürbar. Noch heute bilden sich die Folgen in den Seelen der Opfer ab. Sie haben – so wissen wir aus der Forschung – inzwischen auch die nächste Generation erreicht. Diese Menschen existieren real. Unsere sozialen und psychologischen Beratungsstellen haben jeden Tag mit ihnen zu tun.
Mit dieser Perspektive sollten wir auch in die Zukunft schauen. Wenn heute noch der Krieg in der Ukraine beendet wird, der Wiederaufbau geschafft ist, dann wird es zwei Generationen brauchen, um die Folgen dieses Krieges zu überwinden.
Dieses Recht, meine Damen und Herren, über Zeit und Raum der Zivilisation zu bestimmen, dürfen Diktatoren und Autokraten nicht erlangen. Lassen Sie uns dafür eintreten, diese Kette zu durchbrechen. Auch dazu ist der 23. August ein Tag des Gedenkens.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Vortrag von Alda Vanaga, Botschafterin der Republik Lettland, gehalten am 23.08.2023

Die Folgen der sowjetischen und nazionalsozialistischen Besatzung für das Schicksal Lettlands

Sehr geehrte Damen und Herren!
Ich danke der Gedenk- und Begegnungstätte ehemaliges KGB- Gefängnis Potsdam für die Einladung, heute an dem Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus hier sprechen zu dürfen. Es ist wichtig, an den 23. August zu erinnern und über die Verbrechen des Stalinismus zu sprechen. Ich werde diesen Begriff noch erweitern und in meinem Vortrag über den Komunismus und die Sowjetische Besatzung sprechen. Ich hoffe, mit meinem Vortrag einen Einblick in die Geschichte Lettlands geben und Verständnis über unsere Erfahrung mit dem schrecklichen sowjetischen Regime wecken zu können.
Da ich immer noch in Deutschland Menschen begegne, die denken, Lettland sei ein junges Land, werde ich meinen Vortrag mit der Gründung der Republik Lettland, die in diesem Jahr ihren 105. Geburtstag feiern wird, beginnen.
Weiter werde ich über die Nachbarschaft mit Sowjetrussland und über völkerrechtliche Abkommen mit Sowjetrussland sprechen und tiefer in die Geschichte der sowjetischen und nazionalsozialistischen Besatzung und Repressionen in Lettland eingehen.

Zur Vorgeschichte des unabhängigen Lettlands: Die Republik Lettland wurde am 18. November 1918 gegründet
Die Idee, ein eigenes Land aufzubauen, entstand Ende des 19. Jahrhunderts. Diese in die Wirklichkeit umzusetzen, war jedoch nur im Schatten des ersten Weltkriegs in Anwesenheit der zwei Besatzungsmächte – des russischen Reiches und Deutschlands möglich. Bereits am Anfang 1918 fand die Idee der Unabhängigkeitserklärung Lettlands breite Unterstützung. Die Besetzung Lettlands durch Deutschland erlaubte es jedoch nicht, sie zu verwirklichen.
Durch die Verkündung der Republik Lettland am 18. November 1918 wurde das Recht auf Selbstbestimmung des lettischen Volkes ausgeübt. Die Verkündung der Republik Lettland erhielt nach dem Zustandekommen der lettischen Verfassung im Jahr 1920 und nach dem Verfahren der internationalen Anerkennung Lettlands im Jahr 1921 volle Legitimität.

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Ein wichtiger Meilenstein unserer Geschichte ist der 11. August 1920, als der Friedensvertrag zwischen Lettland und Russland abgeschlossen wurde.
Mit dem Vertrag wurden die lettischen Freiheitskämpfe beendet und bis heute feiern wir am 11. August den Gedenktag der lettischen Freiheitskämpfer.
Die wichtigsten Sätze im Vertrag zwischen Lettland und Russland waren, dass mit Inkrafttreten des Vertrags “die Kriegslage zwischen den beiden Parteien beendet wird und dass Russland vorbehaltlos die Unabhängigkeit, Autonomie und Souveränität des lettischen Staates anerkennt und freiwillig und für immer auf alle souveränen Rechte, die Russland gegenüber dem lettischen Volk und dem lettischen Land besaß, verzichtet…“. Diese Erklärung öffnete den Weg für die weltweite internationale Anerkennung Lettlands. Dieser Artikel ist nach wie vor einer der wichtigsten Eckpfeiler der lettischen Rechtslehre und der wichtigsten Argumente für die Aufrechterhaltung der rechtlichen Kontinuität des lettischen Staates.
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In den 20er und 30er Jahren des 20sten Jahrhunderts hat Lettland sich zu einem erfolgreichen Industriestaat mit einem starken Agrarsektor entwickelt. Die vielen Hochschulen und die große Zahl von Studierenden spielten eine besondere Rolle. Lettland hat in diesem Bereich eine der Spitzenpositionen unter den europäischen Ländern eingenommen.
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Die Geschichte der Beziehung zwischen Lettland und der UdSSR war ziemlich kompliziert. Lettland und die anderen baltischen Staaten bemühten sich um eine friedliche Beziehung mit dem Schwergewicht auf wirtschaftlich günstige Beziehungen zum gefährlichen Nachbar. Doch nach dem Abschluss des Friedensabkommens zwischen Lettland und Russland bestand das Ziel der UdSSR immer darin, die baltischen Staaten zu schwächen, sie zu spalten, ihre Zusammenarbeit zu verhindern und ihre Bemühungen um die Schaffung einer Union zu unterbinden.
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Sowjetischer Druck
Die UdSSR bildete in Lettland Netzwerke von Agenten und unterstützte die illegale kommunistische Partei Lettlands. Zweiseitige Nichtangriffsvereinbarungen gehörten zu den Instrumenten, mit denen die Einheit der baltischen Staaten torpediert und zerstört werden konnten. Die Nichtangriffsvereinbarungen waren ein charakteristisches und weit verbreitetes Phänomen der internationalen Beziehungen zwischen den Kriegen, das aber letztendlich die behaupteten Ziele nicht erreichte und den zweiten Weltkrieg nicht verhindert hat.
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Das andere Ziel der UdSSR war die weitere Integration in das System der internationalen Beziehungen, die Schaffung eines positiven Rufes und die Nutzung kollektiver Sicherheitsmechanismen zu ihrem Vorteil. Die lettische Seite war daran interessiert, formale Sicherheitsgarantien zu erhalten, obgleich es der Probleme bewusst war und sie die wahren Motive der UdSSR oft mit Skepsis betrachtete.
Doch im 1932 war es so weit. Der Nichtangriffsvertrag zwischen Lettland und der Sowjetunion wurde am 5. Februar 1932 in Riga unterzeichnet. In der Präambel des Abkommens wurde auf das Friedensabkommen zwischen Lettland und Russland vom 11.August 1920 Bezug genommen und auf den allgemeinen Frieden und die Stärkung der Freundschaft zwischen beiden Ländern verwiesen.
Insgesamt war der Vertrag kurzfristig der Erfolg, den alle lettischen Regierungen seit den 20er Jahren angestrebt hatten. In der UdSSR waren jedoch alle Garantien, die im Rahmen des Völkerrechtes gewährt wurden, wertlos und wurden verletzt, sobald das für die UdSSR vorteilhaft war. Der Nichtangriffsvertrag zwischen Lettland und der UdSSR wurde, wie auch der Friedensvertrag zwischen Lettland und Russland vom 11. August 1920, brutal verletzt, indem die UdSSR Lettland 1939 die Stationierung von Militärbasen und 1940 ein Ultimatum aufgezwungen hat.
In den Jahren 1939-1940 verstieß die UdSSR auch gegen die Nichtangriffsvereinbarungen mit Estland, Litauen, Polen und Finnland.
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23. August 1939 – Die Unterzeichnung des Abkommens zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion mit dem Geheimprotokoll über die Einflusszonen. Ein Tag, der das Schicksal von Lettland geändert hat und mit dessen Folgen wir bis zu heute zu rechnen haben.
Genannt auch Stalin-Hitler oder Molotov-Ribbentrop Pakt nach dem sowjetischen Aussenminister Vyacheslav Molotow und dem deutschen Minister für auswärtige Angelegenheiten Ulrich Friedrich Wilhelm Joachim von Ribbentrop.
Der offizielle Text des Nichtangriffsvertrags zwischen der UdSSR und Deutschland sah vor, dass keine gegenseitige Aggression stattfindet.
Der Vertrag wurde durch geheime Zusatzprotokolle ergänzt, die weit über die Grenzen der Nichtangriffsverpflichtung hinausgingen und gegen das Völkerrecht und die internationalen Verträge beider Länder verstießen.
Das geheime Protokoll des Vertrags legte die Grenzen der Interessenbereiche der Vertragsparteien fest. In Artikel 1 des Protokolls wurden die baltischen Staaten aufgeteilt: „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland und Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR….”
Der Vertrag wurde in Moskau in der Nacht am 24. August 1939 unterzeichnet. Für Deutschland brachte die Zusammenarbeit mit der UdSSR auch die Beschaffung strategisch wichtiger Rohstoffe und Güter. Faktisch bedeutete dies den Beginn des zweiten Weltkriegs.
In der UdSSR ermöglichte dieser Vertrag eine umfassende territoriale Expansion und öffnete den Weg für mögliche weitere Eroberungen. Der Vertrag wurde zwischen Deutschland und der UdSSR als zwei großen revisionistischen Supermächten in Europa geschlossen. Beide Mächte haben Osteuropa aufgeteilt. Der Vertrag war gegen die westlichen Länder und die internationale Ordnung gerichtet. Dies ermöglichte Deutschland, einen Krieg mit Polen und eventuell mit Großbritannien und Frankreich zu beginnen, ohne Angst vor dem Eingreifen der UdSSR zu haben.
Der Vertrag wird bis heute als zynisch und rechtswidrig eingestuft. Diese Vereinbarung war eine Überraschung in der internationalen Diplomatie, da beide Mächte sowohl wegen der Gegensätzlichkeit und Ideologie der Regime als auch wegen der anhaltenden Interessenskonflikte als antagonistisch angesehen wurden. Der Molotov-Ribbentrop Pakt hat einen negativen Eindruck in den demokratischen Ländern Europas hinterlassen und er wurde als ein Verrat der UdSSR zugunsten einer undemokratischen Bewegung angesehen. Dies führte auch zur Verwirrung in Kommunistischen Parteien und anderen linken Kräften in der Welt und in Europa. Heute sehen wir, dass einige westliche Demokratien ein kurzes Gedächtnis haben und bis vor kurzem zu einer breiten Zusammenarbeit und sogar Abhängigkeit von Russland dem würdigen Nachfolger der Sowjetunion, bereit waren.
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In den 90er Jahren nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit in den baltischen Staaten wirkten sich die Folgen des Molotow-Ribbentrop-Paktes auf deren Außenpolitik aus. Wir machten uns grosse Sorgen über einen weiteren Verrat und eine eventuelle Einigung des Westens auf Kosten der baltischen Völker. Wie z.B. die mögliche Verhinderung der Aufnahme der Baltischen Staaten in die NATO! Heutzutage wissen wir, dass wir nicht so falsch mit unseren Sorgen lagen.
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Kriegsbeginn und erste sowjetische Besetzung
Am 1. September 1939 griff Deutschland Polen an. Das Vereinigte Königreich und Frankreich erklärten Deutschland den Krieg.
Die UdSSR drängte den baltischen Staaten Abkommen zur gegenseitigen militärischen Hilfe (Militärbasisabkommen) auf, die den Einsatz von Sowjettruppen in diesen Ländern vorsahen. Solche Verträge wurden am 28.9.1939 in Moskau mit Estland, am 5.10.1939 mit Lettland und am 10.10.1939 mit Litauen geschlossen. Schon damals haben die baltischen Staaten einen großen Teil ihrer Souveränität und eigenständigen Außenpolitik verloren.
Mit dem Militärbasis-Abkommen vom 5. Oktober 1939 verpflichteten sich beide Seiten, einander im Falle eines direkten Angriffs oder der Androhung eines Angriffs der Vertragsparteien eines europäischen Großmachtes jede Art von Hilfe, auch militärischer Art, zu leisten.
Die UdSSR verpflichtete sich, die lettische Armee zu günstigen Bedingungen mit Rüstungsgütern und anderen Kriegsmaterialien zu unterstützen. Um die Sicherheit der Sowjetunion zu gewährleisten und ihre Unabhängigkeit zu stärken, erteilte die Republik Lettland der UdSSR das Recht, einige Flugzeuge und die Militärflotte in Liepaja und Ventspils zu halten.
Weiterhin durfte die Sowjetunion in Lettland bis zu 25000 Mann starke Luft- und Landtruppen stationieren (am 1. Juni 1940 bestand die gesamte lettische Armee im Vergleich nur aus 30843 Mann: 2013 Offizieren, 27555 stellvertretenden Offizieren, Ausbildern und Soldaten sowie 1275 Freiberuflern).
Am 11. Oktober 1939 hat der Austausch von Ratifikationsurkunden zwischen dem lettischen Außenminister und dem bevollmächtigten Geschäftsführer für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR, der gleichzeitig Mitarbeiter des sowejtischen Nachrichtendienstes war, stattgefunden. Dieser UdSSR-Beamte hatte damals die Vorbereitung der Besetzung Lettlands bereits eingeleitet.
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Nach dem Militärbasis-Abkommen kam die physische Besetzung Lettlands. Am 16. Juni 1940 brachte die UdSSR ein Ultimatum an Lettland mit Anschuldigungen über die Verstöße gegen das Militärbasis-Abkommen vom 5. Oktober 1939. Die Hauptforderungen des Ultimatums bestanden darin, eine den UdSSR gegenüber loyale Regierung zu schaffen und zu ermöglichen, ein zusätzliches sowjetisches Truppenkontingent einzuführen. Die Lettische Regierung war gezwungen, sich diesem Ultimatum zu unterwerfen, und am Morgen des 17. Juni überquerten sowjetische Truppen die lettische Grenze und nahmen alle strategisch wichtigen Punkte ein.
Die erste sowjetische Besatzung dauerte ein Jahr, bis sie Anfang Juli 1941 durch das nationalsozialistische deutsche Besatzungsregime ersetzt wurde. Dieser Zeitraum hat im Bewusstsein der lettischen Bevölkerung und ihrer Nachkommen die Bezeichnung „das schreckliche/furchtbare Jahr“ erhalten. Damals wurde sowohl den Letten als auch den Angehörigen nationaler Minderheiten (Russen, Juden, Polen usw.) gewaltsam das totalitäre sowjetische Regime aufgezwungen, das auf einem massiven Terror gegen die Bevölkerung beruhte.
Vor dem Hintergrund der heutigen politischen Ereignisse ist es wichtig zu bedenken, dass die Besetzung nicht innerhalb eines Tages stattfand. Die Vorbereitung, der Einsatz und der Ausbau sowjetischer Truppen begannen bereits in der zweiten Hälfte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts.
Stalin zögerte nicht, die Möglichkeiten zu nutzen, die ihm die geheimen Absprachen mit dem nationalsozialistischen Deutschland und die internationale Lage eröffnet hatten. Der entscheidende Schlag gegen die Unabhängigkeit der baltischen Staaten war die Zeit, als Hitler die erfolgreiche Militäroperation in Frankreich abgeschlosssen hatte (Paris wurde am 14. Juni besetzt). Am Tag der endgültigen Besetzung Lettlands am 17. Juni 1940 beglückwünschte Vyacheslav Molotov, der Außenminister der UdSSR, Deutschland im Namen der Sowjetunion zum Sieg in Frankreich. Gleichzeitig berichtete er seinem Nazi-Kollegen Ribbentrop, dass ein Bevolmächtigter der UdSSR (Vischinsky) nach Lettland geschickt würde und unter seiner Leitung nach dem erzwungenen Rücktritt der lettischen Regierung eine „Volksregierung“ gegründet würde. Vor dem Hintergrund anderer wichtiger Ereignisse hat die internationale Gemeinschaft kaum von diesem Verbrechen Notiz genommen. Zu diesem Zeitpunkt folgte die ganze Welt mit Sorge den Ereignissen in Frankreich und wartete auf das weitere Vorgehen Hitlers. Das Vereinigte Königreich bereitete sich auf eine mögliche deutsche Invasion vor.
Die sowjetische Besatzungsmacht hat alle Lettischen Institutionen, die die Souveränität des Lettischen Staates gewährleisteten, eliminiert: das Außenministerium und den Diplomatischen Dienst, die Streitkräfte, die Grenzschutzbehörde. Die UdSSR hat aufgefordert, alle Auslandsvertretungen Lettlands zu schliessen, viele Gebäude und Gegenstände wurden einfach von der UdSSR übernommen. Die Armee und die Grenzschutzbeamten wurden zahlenmäßig reduziert und deren Soldaten und Mitarbeiter teilweise deportiert und erschossen.
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Repressionen
Bereits in den ersten Tagen der sowjetischen Besetzung begannen sowjetische Geheimdienste wie das KGB (oder auch Tscheka genannte) und die Dienste der Roten Armee mit der Festnahme und Abschiebung von Bürgern des noch offiziell unabhängigen Staates in das Gebiet der UdSSR, was die faktische Existenz der Besatzung beweist.
Das lettische Justizsystem wurde völlig ignoriert. Alle von den Besatzungsbehörden eingeleiteten Fälle wurden von den Militärgerichten der Roten Armee nach dem russischen Strafgesetzbuch bzw. nach dem Aufbau des Rechtssystems eines fremden Staates geprüft.
Die Menschen wurden auch rückwirkend für ihre Tätigkeit vor dem 17.6.1940 bestraft. Im Juli wurden die führenden lettischen Politiker wie der Präsident, der Außenminister und andere festgenommen und nach Russland abgeschoben.
Das Archiv des KGB enthält Informationen über 7.292 festgenommene Personen, davon 263 Frauen. 184 wurden zwischen dem 17. Juni 1940 und dem 5. August 1940 verhaftet (d.h. vor der offiziellen Aufnahme der lettischen SSR in die UdSSR). Als erstes wurden Regierungsmitglieder, Beamte, Polizei- und Justizbeamte, Sicherheitskräfte, Grenzschutzbeamte usw. verhaftet, sowie die Vertreter von Organisationen, die mit dem Ausland in Verbindung standen: russische Auswanderer, polnische, jüdische Aktivisten, die bekanntesten Mitglieder der Nationalen Vereine usw.. Die Verhaftungen waren größtenteils auf die Bestrafung derjenigen zurückzuführen, die „gegen die revolutionäre Bewegung und die Arbeiterklasse kämpften“. Bis zur offiziellen Einführung des Strafgesetzbuches der UdSSR im November 1940 waren schon rund eineineinhalb Tausend Menschen verhaftet worden.
Unter der Leitung der Vertreter Moskaus begann die Nationalisierung von Banken und großen Unternehmen. Danach folgten die Handelsunternehmen, die großen Häuser und kleineren Unternehmen. Die Lettische Nationalwährung wurde vollständig aus dem Verkehr gezogen.

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Allmählich entwickelten sich Widerstandsgruppen gegen die sowjetische Besetzung, deren aktivste Kraft in den Jahren 1940-1941 die Schuljugend und die Studenten waren. Auch die Minderheiten wie Polen und Juden haben sich in dem Lettischen Widerstand beteiligt.

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Es wird immer noch stark diskutiert, warum Lettland, genauso wie Estland und Litauen 1940 keinen militärischen Widerstand gegen die sowjetischen Truppen geleistet haben. An Hand der bekannten Zahlen, sehen wir, dass die sowjetischen Truppen viel grösser und stärker waren. Am 10. Mai 1940 befanden sich in den baltischen Staaten bereits 66.946 Soldaten und Offiziere der Roten Armee und eine unbekannte Zahl ihrer Familienangehörigen.
Heutzutage gehen wir davon aus, dass die Präsidenten der jeweiligen Staaten gehofft haben, durch militärisches Stillhalten unnötige Opfer zu vermeiden. Was auch immer sich der Lettische Präsident und die anderen baltischen Regierungen dachten, ihnen gelang es leider nicht, tausende von Menschen vor sowjetischer Repression und Terror zu retten.
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Die Besetzung und Annexion Lettlands und der anderen baltischen Staaten im Kontext des internationalen Systems des 20. Jahrhunderts war ein außergewöhnliches Ereignis. Während des zweiten Weltkriegs wurden viele Staaten besetzt, doch ihre Unabhängigkeit wurde nach dem Krieg wiederhergestellt. Die baltischen Staaten waren die einzigen, denen diese Möglichkeit nicht gegeben wurde. Die Hoffnung, dass der Krieg zwischen Deutschland und der UdSSR zu Bedingungen führen könnte, die die verlorene Unabhängigkeit wiederherstellen würde, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Tatsache, dass die meisten Länder der Welt nach dem zweiten Weltkrieg die Besatzung der Baltischen Staaten und dessen Aufnahme in die UdSSR nicht anerkannt haben, hat jedoch die Möglichkeit gegeben, die Unabhängigkeit der baltischen Staaten ein halbes Jahrhundert nach ihrer Gründung wiederherzustellen.
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Ein Gebiet, zwei Länder. Erklärung von Welles
Nach der Besetzung Lettlands bestand die Republik Lettland rechtlich (de jure) weiter, obwohl sie tatsächlich (de facto) von der UdSSR besetzt war.
Am 23. Juli 1940 verbreitete die US-Regierung die sogenannte Erklärung von Samner Welles, in der sie erklärte, dass die Vereinigten Staaten die Besatzung der drei baltischen Staaten nicht anerkennt. Viele westlichen Staaten wie Großbritannien, Australien, Kanada, Frankreich, Belgien, der Vatikan, Irland, Finnland, Dänemark, Norwegen, Portugal, die Türkei, Brasilien, China, Jugoslawien, usw. haben eine ähnliche Position eingenommen. Es waren weiterhin diplomatische Vertretungen Lettlands in acht Ländern tätig: USA, Australien, Belgien, Brasilien, Irland, Kanada, Großbritannien, Norwegen. Obwohl mehrere Länder später unter dem Druck der Sowjetunion ihre Position änderten, akzeptierten die führenden westlichen Staaten während der gesamten Besetzungszeit offiziell die Vereinnahmung der baltischen Staaten in die UdSSR nicht.
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14. Juni 1941 – die Erste Deportation der Lettischen Familien nach Sibirien (15.400 Menschen)
Unmittelbar nach der Besatzung Lettlands begann der Zerfall seiner Staatlichkeit, die Schaffung und Stärkung des sowjetischen Regimes sowie die massive Unterdrückung oder Repressionen der sogenannten „Feinde des Volkes“ und „fremden Elemente“.
Parallel zu den Strafverfahren und den Verhaftungen bestimmter „Gegensowjeteinheiten“ (Mit Gegenoffensive meine ich die organisierte Widerstandsbewegung und Einheiten) wurden in Lettland so wie auch in Estland und Litauen die Vorbereitungen für eine umfassende Abschiebung von Menschen aus den besetzten Gebieten nach Sibirien getroffen. Am 14. Juni 1941 erreichten die sowjetischen Repressionen ihren Höhepunkt, als 15.443 lettische Bürger, Männer, Frauen und Kinder innerhalb einer Nacht in die UdSSR gebracht wurden.
Und das war erst der Anfang.
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Das Ziel der geplanten Abschiebung war es, die lettische politische Elite, Staatsmänner, Militäroffiziere, Justiz- und Polizeibeamte, Parteimitglieder, Wissenschaftler, Schriftsteller, Lehrer, Angehörige anderer Berufe zu verhaften und samt ihrer Familien zu deportieren.
Die Deportation erfolgte in erster Linie nach „besonderen Merkmalen“. Es wurden diejenigen abgeschoben, die „konterrevolutionäre“ Aktivitäten und „antisowjetische Agitation“ ausübten sowie wohlhabendere Bürger der Republik Lettlands.
Die Abschiebung von Frauen, Kindern, älteren Menschen wurde mit der Verhaftung des Familienvaters begründet.
Am 14. Juni 1941 wurden deportierte Frauen, Kinder und ältere Menschen in ein lebenslanges Lager in den Bezirk Krasnojarsk, in den Bezirk Nowosibirsk und in die nördlichen Gebiete Kasachstans verbannt, wo sie unter Aufsicht der Spezialen Komandanturen des Innenministeriums der UdSSR hauptsächlich in forstwirtschaftlichen Betrieben, in Kolchosen und in sowjetischen Betrieben tätig waren. An den Lagerorten starben über 1.900 ausgewiesene lettische Staatsbürger. Die bei der Deportation beschlagnahmten Häuser und Güter wurden nicht zurückgegeben.
Gemäss der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948 sind die Deportationen vom 14. Juni 1941 zu Recht als Völkermord gegen das lettische Volk anzusehen.
Zwischen 1940 und 1941 wurden etwa 26.000 lettische Bürger verhaftet, getötet und repressiv unterdrückt.
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Der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion und die deutsche Besetzung Lettlands 1941
Am 22. Juni 1941 greift Nazi Deustchland die UdSSR an
Am 22. Juni 1941 haben die nationalsozialistischen deutschen Truppen gemäß dem Barbarossa-Plan die Sowjetunion (UdSSR) angegriffen. Schon um 4.00 Uhr nachts bombardierte die deutsche Luftwaffe das lettische Hoheitsgebiet, die Hafenstädte Liepaja und Ventspils, während die Wehrmacht bei Rucava die lettische Grenze überquerte. Die Truppen bewegten sich schnell und eroberten Riga bereits am 1. Juli.
Zwischen dem Rücktritt der sowjetischen Besatzungsmacht und der Einrichtung deutscher Militärstrukturen vergingen an einigen Orten nur Stunden, (z.B. in Riga) oder eine Woche (Latgale). Die deutsche Militärverwaltung richtete an Ort und Stelle ein Befehlssystem ein.
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Die deutsche Besatzungsmacht begann bereits am 1.7.1941 mit der Währungsreform, bei der der Wert des Rubels im Verhältnis zur Reichsmark auf 10:1 festgelegt wurde. Der Wert der Ersparnisse der lettischen Bevölkerung ging damit um das Fünffache zurück. Die Nahrungsmittel- und Rohstoffvorräte nahmen rasch ab. Die registrierten Einwohner Lettlands erhielten Lebensmittelkarten.
Der Wehrmachtsangriff war so schnell vor sich gegangen, dass die Sowjetbehörden die Lettische Industrie nicht evakuieren konnten. Viele große Unternehmen wie „National Electronical Fabrika“ (VEF), „Vairogs“, „Tosmare“, „Liepaja Drahtfabrik“ und andere konnten ihre Arbeit in den ersten Tagen der deutschen Besetzung wieder aufnehmen. Auch das Wasserkraftwerk Kegums war beinahe intakt. Am 19.8.1941 übernahm das Nazi-Besatzungsregime das gesamte Vermögen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, einschließlich der verstaatlichten Güter. Nur ein kleiner Teil der Produktion wurde danach für den zivilen Bedarf verwendet.
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Holocaust
Gemäß der nationalsozialistischen Rassenideologie wurde die physische Zerstörung der Juden angeordnet. Um diese Ziele zu erreichen, wurden vier so genannte Einsatzgruppen aus Deutschland in die Eroberungsgebiete entsandt. Im Baltikum bestand die „Einsatzgruppe A“ aus 990 Männern.
Die schrecklichsten Verbrechen des Holocausts in Lettland waren der 4. Juli 1941, als die Grosse Rigaer Horalsynagoge samt Besuchern verbrannte; Ende August wurden die Juden in Kleinstädten und ländlichen Gebieten getötet. Die überlebenden Juden wurden in Ghettos eingesperrt. Im Rigaer Ghetto lebten ursprünglich etwa 30.000 Menschen. Die Juden wurden am 30. November und am 8. Dezember 1941 im Wald von Rumbula ermordet. Dies waren nicht nur Lettische Juden, sondern auch Juden aus Deutschland, Österreich, der Tschechischen Republik und anderen Ländern., die nach Riga gebracht worden waren.
Es existierten mehrere Ghettos in Lettland in Liep?ja, in Daugavpils. Die meisten dortigen Gefangenen wurden erschossen. Die Überlebenden wurden in das Konzentrationslager im Rigaer Kaiserwald geschickt, nach Dundaga, Eleja und anderen Orten. Als die Nazis Lettland verließen, transportierten sie die Juden von Riga-Kaiserwald in das Konzentrationslager Stutthof in Polen. Während der Nazi- Besatzung wurden in Lettland etwa 70.000 Juden getötet, sowohl lettische als auch aus anderen Ländern Abgeschobene.
Es ist mir wichtig hier auch zu erwähnen, dass trotz der Repressionen und Gefahr für Leib und Leben sich lettische Bürger an der Rettung der Juden beteiligten. Das waren beispielsweise Žanis und Johanna Lipkes, die zusammen mit 25 Helfern während des Krieges über 53 Juden gerettet haben. Im Jahr 1943 überlebten 11 Juden bei Roberts und Johanna Seduli in Liepaja, Thron Schwartz rettete neun Juden, Elvirrone acht, Arthur Motmiller sieben Juden, Anna Alma Pole sieben Juden, wurde aber selbst verhaftet. Insgesamt wurden in Lettland rund 781 Juden versteckt, von denen 577 überlebten.
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Am 10. Februar 1943 wurde allerdings auch unter Verstoß gegen das Haager Übereinkommen von 1907 über das Verbot der Mobilisierung durch den Besatzungsstaat im besetzten Gebiet eine Anordnung zur Einrichtung einer SS-Legion für lettische Freiwillige unterzeichnet. Es fanden vier Mobilisierungsmaßnahmen statt.
Auch die sowjetische Armee hat eine Mobilisierung durchgeführt. In der Roten Armee gab es daher lettische Soldaten. Am 3.8.1941 wurde die Division der lettischen Schützen gegründet, in der die Hälfte der Soldaten Letten waren.
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Folgen der deutschen Besetzung
Im Sommer 1941 konnten etwa 40.000 Einwohner aus Lettland fliehen. Ende Juli und August meldete die nationalsozialistische Besatzungsmacht 1,796 Mio. Einwohner (ohne Juden). Da es in Deutschland an Arbeitskräften mangelte, wurde 1941 eine Anordnung zur Abschiebung verdächtiger Einheimischer nach Deutschland zur Zwangsarbeit erlassen. Während der Besatzung fanden drei derartige Aktionen statt, an denen etwa 14.000 lettische Bürger nach Deutschland geschickt wurden. Während des Krieges, im Sommer und Herbst 1944, verließen 171.000 Menschen das Territorium Lettlands, sowohl zwangsweise als auch durch Flucht aus der Roten Armee.
Unter dem Einfluss des nationalsozialistischen Besatzungsregimes verlor Lettland einen großen Teil der Intelligenz. Lettland hatte auch die gesamte jüdische Gemeinschaft verloren. Die Wirtschaft war ruiniert, weil die Nationalsozialisten bei ihrem Rückzug fast alle großen Wirtschaftsbetriebe entfernt oder zerstört hatten. Nach einem Jahr der sowjetischen und zwei Jahren Nazi-Herrschaft wurde Lettland von einem blühenden und wirtschafllich stabilen Land in Schutt und Asche gelegt. Und das war lange noch nicht das Ende der Grausamkeiten.
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1944 Befreiung Rigas/Lettlands von Nazi-Truppen und gleichzeitige Besatzung durch sowjetische Truppen
Die sowjetische Armee begann am 22.6.1944 die Operation „Bagration“. Im Oktober setzte die sowjetische Armee den Angriff auf Riga fort. Mitte Oktober stabilisierte sich die Frontlinie in Kurland. Es fanden sechs große Schlachten statt, an denen auf beiden Seiten Armeeabteilungen mit lettischen Soldaten teilnahmen. Die Belagerung Kurlands dauerte bis zur Kapitulation am 8.5.1945 an.

Die Bevölkerung leistete der sowjetischer Herrschaft bewaffneten Widerstand (1944-1957).
Nach der Rückkehr der Sowjetmacht nach Lettland haben sich Widerstandseinheiten von Partisanen organisiert. Männer schlossen sich den Partisanen an, um der Mobilisierung der sowjetischen Armee zu entgehen, andere retteten sich vor Massenverhaftungen und Deportationen.
Das Ziel der nationalen Partisanenkämpfe nach Kriegsende war es, die Unabhängigkeit Lettlands wiederherzustellen. Denn eine große Mehrheit der Bevölkerung glaubte, dass die westlichen Verbündeten die baltischen Staaten nicht der Sowjetunion überlassen würden. Im Laufe der Zeit zielten die Partisanenkämpfe darauf ab, die Sowjetherrschaft vor Ort zu besiegen.
Trotz der großen Menschenverluste waren ca. 1 % der Bevölkerung des Landes bereit, Lettland gegen die Rückkehr der Sowjetherrschaft zu verteidigen. Besonders in bewaldeten ländlichen Gebieten, wo Bunker (die auch für das Leben in der Winterzeit geeignet waren) gebaut werden konnten, war dieser Kampf erfolgreich.
Im Westen des Landes entwickelte sich die Partisanenbewegung in Kurland nach der Kapitulation Deutschlands, als klar war, dass die Sowjetherrschaft in Lettland zurückkehren würde.
Das sowjetische KGB versuchte, den bewaffneten Widerstand zu beseitigen, indem es die Wälder durchsuchte, Aufrufe verbreitete, bewaffnete Angriffe der Truppen organisierte und Agenten in die Wälder schickte. Von diesen wurden falsche Partisanen ausgebildet, die Menschen entführten und ermordeten, um die Lettischen Partisanen zu diskreditieren. Gleichzeitig wurden Verwandte von Partisanen terrorisiert, verhaftet, gefoltert, als Geiseln genommen.
Gefangene Partisanen wurden zu langen Gefängnisstrafen, 10, 25 Jahre oder zur Todesstrafe, verurteilt. Ein Großteil der Gefangenen wurde nach Sibirien geschickt. Die Repressionen endeten auch nicht nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft – es gab Beschränkungen für Wohn- und Arbeitsorte. Das KGB verfolgte Verwandte und Bekannte. In den 70er Jahren gab es mehrere Musterprozesse, um die Öffentlichkeit einzuschüchtern und daran zu erinnern, dass jeder Widerstand gegen das Regime unterdrückt würde.
Laut KGB gehörten 12.250 Personen der bewaffneten Widerstandsbewegung an, was mehr als einer vollständigen Armeedivision entspricht. Die Partisanen verfügten auch über Militärtechnik – Kanonen, Maschinengewehre und entsprechende Munition.
Der Höhepunkt der Partisanenkampfe war 1945-1947. Danach gingen sie zurück, weil viele in der Schlacht gefallen waren oder gefangen genommen wurden. Auch die Verhaftung von Anhängern und die Massendeportation der Bevölkerung im Jahr 1949 haben die Bewegung der nationalen Partisanen geschwächt. Die Methoden des KGB, die massenhaften Repressionen waren also leider erfolgreich.
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25. März 1949 – weitere Deportationen nach Sibirien (42.125 Menschen)
Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte die Sowjetunion in den besetzten und annektierten Gebieten, die 1940-1941 begonnene Sowetisierung der Region abzuschließen, zu der die Vereinigung einzelner privater Bauernhöfe zu staatlichen Kolchosen und die Auflösung des bewaffneten Widerstands gehörten. Um diese Ziele zu erreichen, wurden aus diesen Gebieten 1948-1952 Menschen massenweise abgeschoben. Eine dieser Aktionen war die vom 25.3.1949, die gleichzeitig in Estland, Lettland und Litauen durchgeführt wurde. Es war eine der größten Deportationen nach dem Krieg in der UdSSR sowie die größte Deportationsaktion im Baltikum (insgesamt wurden 95.000 Menschen deportiert).
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Die endgültige Entscheidung „über die Abschiebung von Sowjetgegnern und ihren Familien, illegal aufhältigen Banditen und nationalistischen Familien, Familien von Banditen aus Litauen, Lettland und Estland“ wurde am 18. Januar 1949 getroffen. Die Entscheidung sah die Deportation von 29.000 Familien oder 87.000 Menschen vor.
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Die Deportationsaktion war als eine groß angelegte, sehr geheime Militäroperation konzipiert und bei ihrer Vorbereitung und zur Durchführung wurden die Repressions-Behörden der UdSSR benannt. Mitte Februar begann die Erstellung der Listen von Menschen, die deportiert werden sollen.

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Die Deportation begann am 25. März nach Mitternacht. Die meisten zu Deportierenden wurden mit Lastkraftwagen zu Sammelstellen gebracht. Jede Familie durfte 1.500 kg Gepäck mitnehmen. Für die Sammlung war eine Stunde vorgesehen. In einigen Fällen verkürzten sich die Einsatzteams jedoch willkürlich auf 15 Minuten oder weniger. Überraschte und verwirrte Menschen konnten oft nicht einmal innerhalb einer Stunde Gegenstände zusammenstellen, und viele hatten nicht einmal genug Besitz und Nahrungsmittel. Nach der Abschiebung dieser Familien raubten die sowjetische Soldaten oft die Wohnungen und Häuser der Familien aus.
Diese Operation sollte innerhalb von drei Tagen abgeschlossen werden. Insgesamt wurden Deportierte aus Lettland in 33 Güterzügen nach Sibirien gebracht.
Am 29. März 1949 berichtete das Büro der Komunistischen Partei Lettlands, dass die Abschiebungsoperation erfolgreich abgeschlossen und alle Entscheidungen der Regierung der UdSSR umgesetzt worden seien.
Die Massendeportation führte zu Panik. Es gab Gerüchte, dass dies erst der Beginn der allgemeinen Deportation aller politisch unzuverlässigen Letten nach Sibirien sei, dass sie der Vorbote des Krieges sei, usw. Die Bauern befürchteten, dass auch diejenigen, die nicht in die Kolchose gehen wollten, mit weiteren Deportationen rechnen könnten. Bereits im April 1949 stieg die Zahl der Kollektivlandwirte rapide an. Die Deportation erleichterte also auch die Verwirklichung des zweiten Ziels der Unterdrückung des bewaffneten Widerstands erheblich, führte jedoch nicht sofort zu Ergebnissen. Unmittelbar nach der Deportation nahm nämlich auch die Widerstandsaktivität zu, da sich viele, die vor der Deportation geflohen waren, den Partisanen anschlossen.
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Die vom lettischen Nationalarchiv veröffentlichten Daten vermitteln heute das wirklichkeitsnaheste Bild von den Opfern der Deportation von 1949 in Lettland. Vom 25.-30.3.1949 wurden 42.125 Menschen (2,2 % der lettischen Bevölkerung) aus Lettland entfernt, darunter 16.869 Männer und 25.256 Frauen. Darunter waren 10.987 Kinder unter 16 Jahren. 94,5 % der Deportierten waren Letten, die nächstgrößeren ethnischen Gruppen waren Russen, Polen und Weißrussen.
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Die lettische Bevölkerung wurde in die sowjetischen Gebiete Amur, Omsk und Tomsk gebracht. Sie alle mussten unterschreiben, dass sie lebenslänglich deportiert worden waren. Die Flucht aus dem Lager war nicht möglich. Die Inhaftierten durften sich nicht ohne Genehmigung außerhalb des Verwaltungsbezirks bewegen. Die meisten entsandten Arbeitskräfte waren in der Landwirtschaft beschäftigt, vor allem in Kolchosen.
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1954 begann die „Liberalisierung” der Lage der Deportierten. Die meisten von im Jahre 1949 Deportierten wurden 1956-1958 aus den Sonderlagern entlassen. Die Befreiung bedeutete nicht das Recht, nach Lettland zurückzukehren. Zum Zeitpunkt der Abschiebung wurde das entzogene Eigentum weder zurückgegeben noch entschädigt.

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Der zivile (gewaltfreie) Widerstand gegen das sowjetische Besatzungsregime begann nach der Besatzung Lettlands und dauerte bis zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit in den 1990er Jahren.
Es fing mit der Beschädigung von Wahlbulletins an, damals waren Studenten und die Schuljugendschaft aktiv. Sie haben mit der Hilfe von Flyern die Leute aufgefordert, sich nicht in kommunistische Organisationen zu begeben, nicht mit dem KGB zusammenzuarbeiten. Das KGB beseitigte diese Bewegungen leicht, da sie keine Erfahrung mit illegaler Tätigkeit hatten. Die Mitglieder dieser Gruppen wurden verhaftet, verurteilt und in russische Gefängnisse gesteckt. Ihre Widerstandsorganisationen wurden aufgelöst, die Teilnehmer wurden zu 10-25 Jahren Gefängnis in Russland verurteilt, viele kehrten nicht zurück. Diejenigen, die zurückkehrten, hatten oft Gesundheischäden und ihre Jugend hinter Gittern verbracht.

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Gegen 1950 gewann der Widerstand andere Formen – Proteste gegen die Einschränkung der lettischen Sprache, die aufgezwungene Industrialisierung, die die Natur zerstörte und die Ankunft von Migranten aus Russland und Zentralasien und anderen Teilen der UdSSR, gegen schlechte Lebensbedingungen, gegen die Verfolgung des Glaubens und die Entfremdung der westlichen Welt.
Die Letten feierten ab 1960 das offiziell verbotene Sommersonnenwendenfest (L?go) weiter, sangen auf privaten Veranstaltungen verbotene Lieder und Liedparodien in deren sowjetischen Texten, die kommunistischen Parteien und das repressive System kritisiert oder verspottet wurden. Es wurden in den Freundeskreisen antisowjetische Anekdoten erzählt. Jeweils am 11. und am 18. November wurden Gräber und andere Gedenkstätten besucht, um mit Kerzen der Gefallenen in den Unabhängigkeitskriegen Lettlands zu gedenken und den Jahrestag der Unabhängigkeit Lettlands zu feiern.
Von Zeit zu Zeit wurden die verbotenen Fahnen von Lettland an öffentlichen Orten gehisst und antisowjetische Flyer verteilt. Die Menschen versuchten sich mit Ausländern in Verbindung zu setzen, um über die Lage und Repressionen in Lettland zu berichten. Texte von in der UdSSR verbotenen Autoren wurden heimlich kopiert und privat verbreitet. Die Gläubigen haben Gebetsbücher kopiert und weitergegeben.
Der Hauptfeind des kommunistischen Regimes war ein selbstbewusster Mensch, der sich nicht blind an die Anweisungen von oben hielt.
Jeder konnte vor dem komunistischen Regime schuldig werden – Künstler, Schriftsteller, Pädagogen, Beamte, Arbeiter oder Landwirte. Nach der Besatzung Lettlands suchten Ideologen und Repressionsorgane der kommunistischen Partei in Lettland überall nach für das sowjetische Regime unerwünschten Elementen – in Armee, Polizei, beim Eisenbahnpersonal, bei Beamten bis hin zu Mitarbeitern der Verwaltung, Vertretern nationaler Minderheiten, Studenten, religiöse Organisationen, Lehrkräfte und Ärzte.
Die Sowjetherrschaft wandte sich auch gegen die Religion. Den Verhaftungen der Geistlichen folgten die Verfolgung der Gläubigen. Die Kirchengebäude wurden beschlagnahmt und umgebaut, zum Beispiel in Sporthallen oder Pferdeställe. Einige Kirchen wurden abgerissen. In den Schulen wurde Religionsunterricht verboten und die Ausbildung der Geistlichen eingestellt.
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Im ersten Jahr der sowjetischen Besetzung führten Repressionen und Chaos in der Gesellschaft zu Ängsten und Misstrauen, die Lettland in der Zeit der Unabhängigkeit praktisch nicht gekannt hatte.
Während der zweiten Zeit der kommunistischen Besetzung blieb die Haltung der Sowjetregierung gegenüber der lettischen Gesellschaft unverändert: Repressionen und Kontrolle wurden fortgesetzt. Die westliche Kunst und Kultur wurde als ideologisch schädlich definiert. Die Menschen, die an der westlichen Kultur interessiert waren, wurden verurteilt; Künstler wurden daran gehindert, ihre Werke zu zeigen oder zu veröffentlichen, sie wurden oft repressiert.
Das KGB verfolgte die Menschen, die zu im Ausland lebenden Verwandten Kontakt pflegten. Briefe und Postsendungen wurden häufig beschlagnahmt und kontrolliert. Es war sehr schwierig, die UdSSR zu verlassen, selbst nur für Reisezwecke. Es war eine Ausreiseerlaubnis von den sowjetischen Behörden erforderlich, die vorher die Menschen gründlich überprüften. (Mein Vater konnte nie ins Ausland reisen).
Für die Letten, die vor der sowjetischen Besatzung nach Westen ausgereist waren, war es sehr schwierig, überhaupt etwas über ihre repressierten Verwandten zu erfahren. Das KGB zögerte mit den Antworten, weil es nicht wollte, dass seine Verbrechen im Westen bekannt werden.
Wer die Kirche besuchte, riskierte, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Die Geschichte Lettlands wurde in den Schulen nicht unterrichtet. Die Dominanz der russischen Sprache in den Behörden und in der Gesellschaft durfte nicht in Frage gestellt werden.
Während der sowjetischen Jahre gab es eine Zensur für jegliches veröffentlichte Material, Theateraufführungen, Filme.
In Kunstkreisen, am Arbeitsplatz gab es KGB-Agenten, die ihre Kollegen ausspioniert und dem KGB berichtet haben. Die Angst vor dem Verlust der Arbeit, der Möglichkeit, kreativ zu arbeiten oder sogar der Freiheit, wirkten sich demoralisierend auf die Menschen aus. Die Zweideutigkeit wurde zu einem allgemeinen Phänomen, in Mode war verschwiegene Wahrheiten zwischen den Zeilen auszudrücken. In der Zeit haben die Letten die Gabe entwickelt, zwischen den Zeilen lesen zu können. Ich glaube, dass diese Gabe uns heute noch hilft, viel widerstandfähiger gegen die fake news, russischer Propaganda oder Desinformation zu reagieren als andere.
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Hinter dem Eisernen Vorhang und lettische Freiheitsbewegung
Die lettische SSR wurde wie die gesamte UdSSR vom Westen durch den eisernen Vorhang getrennt. Das kommunistische Regime schützte diese Grenze sowohl vor externen Feinden – den westlichen als auch den internen – der Gesellschaft selbst.
Niemand konnte sich den Militärstützpunkten nähern, große Industrieobjekte, Straßen und Brücken fotografieren. Das galt auch für Touristen. Für diese Verstöße drohte eine strafrechtliche Sanktion. Es gab Städtepläne und Landkarten in Geschäften, aber sie waren in der Nähe von Militär- und Industrieobjekten verfälscht und irreführend.
Der Informationsfluss aus dem Westen wurde eingeschrenkt. Die Rundfunk Voice of Amerika oder Free Europe wurde gestört. Die Leute hörten sie heimlich zu Hause hinter geschlossenen Vorhängen und trotz spezieller Funkstörungen, die die Übertragung verzerrten.
Einer der Mechanismen zur Aufrechterhaltung des kommunistischen Regimes war die totale Kontrolle der Gesellschaft in Form der Verfolgung und Beobachtung der Bevölkerung. Das KGB benutzte sie, um die Gegner des Regimes zu zerstören und die Öffentlichkeit einzuschüchtern. Es gab verschiedene Methoden, Vertrauen aufzubauen und Informationen zu erhalten. Das KGB rekrutierte Menschen auch mit psychologischen Methoden – Menschen mit Alkoholproblemen bekamen plötzlich gerne trinkende Freunde, Einsame – Freundinnen oder Traummänner. Homosexuelle wurden dagegen verfolgt, weil solche Beziehungen in der UdSSR strafbar waren.
In den Gefängnissen gab es sogenannte Kamera-(Zellen-) Kameraden. Die Tscheka schickte ein mitfühlendes und vertrauensvolles Kameramitglied, das den Gefangenen veranlassen sollte, wichtige Informationen preiszugeben. In Fällen von Häftlingen, die nichts verrieten, wurden ihre Verwandten oft verfolgt und repressiv behandelt.
Das KGB verfolgte und untersuchte auch regierungstreue Personen, die Führungspositionen übernehmen wollten, um festzustellen, ob ihre Biographie ohne Flecken ist. Dies konnten laute antisowjetische Ansichten, religiöse Überzeugungen, Festnahmen, Deportationen oder westliche Verwandte usw. sein. Die Lehrer befragten die Kinder oft über ihre Eltern und berichteten dem KGB.

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Eine bedeutsame Zivilwiderstandaktion war die von der Menschenrechtsverteidigergruppe Helsinki 86 organisierte Blumenniederlegung am Freiheitsdenkmal am 14. Juni 1987 (dem Gedenktag der ersten Massendeportationen). Diese Aktion fand breite Anerkennung und Unterstützung in der Öffentlichkeit und war im Grunde der Beginn der Freiheitsbewegung. Darauf folgte die Aktion Baltic Way am 23. August 1989, als zwei Millionen Letten, Litauer und Esten eine fast 700 km lange Menschenkette von Tallin über Riga bis Vilnius bildeten und die Wiederherstellung der Freiheit und der Unabhängigkeit der Baltischen Länder forderten. Ich bin stolz, dass ich als 17-jährige Jugendliche daran teilgenommen habe.
Heute gedenken wir dem 34. Jahrestag des Baltischen Wegs!
Die Opfer der KGB-Repressionen konnten erst nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands in den 1990er Jahren rehabilitiert werden.
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Sehr geehrte Damen und Herren!
Trotz dieser furchtbaren Erfahrung und des Einflusses der insgesamt 50 Jahre währenden Besatzungen auf das Lettische Schicksal und Generationen von Letten, trotz der Besatzungen, Repressionen, Deportationen, Ermordung von Tausenden und dem Verlust an Bevölkerung hat Lettland in den 33 Jahren seit der Wiederherstellung seiner Unabhängigkeit viel erreicht.
Wir sind nach Europa zurückgekehrt und 2004 der EU beigetreten. Lettland gehört seit 2004 der stärksten Verteidigungsallianz der Welt – der NATO – an. Die wirtschaftliche Stärke wurde durch die Aufnahme Lettlands in die OECD – den Club der wirtschaftlich entwickelten reichen Länder 2016 bewiesen.

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Die lettische Gesellschaft schätzt dies, vor allem jetzt, wo unser Nachbar und Nachfolger von der Sowjetunion Russland einen schrecklichen Krieg gegen die Ukraine führt.
Wir sind stark, wenn wir zusammen halten und uns der schrecklichen Verbrechen des Stalinismus und Nazionalsozialismus bewusst sind. Gemeinsam können wir die Ukraine dabei unterstützen, das Monster zu besiegen. Aber diese Themen verdienen einen anderen Vortrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, dass Sie heute etwas Neues über das Schicksal Lettlands erfahren haben!

Referenzen/Literatur:

Eckhaus – Ausstellung des Lettischen Okupationssmuseums „Tscheka in Lettland“, 2023
• Erklärung zur Besatzung Lettlands LR Saeima, Riga 22.08.1996
• Besatzung Lettlands: historische und internationale rechtliche Aspekte, Das Lettische Außenministerium
• Beginn der Besatzung. Lehrplanmaterial des Lettischen Okupationsmuseums
• Lettische Besetzung, Lehrmaterial der Hochschule Turiba
• Antonijs Zunda, Unter den Rädern der politischen Supermächte. Latvijas V?stnesis (Frage der baltischen Staaten in den internationalen Beziehungen 1940-1991)
• Aivars Stranga, Besatzung und Eingliederung Lettlands in die UdSSR (1940-1941)
• Eriks Jakobsons, Die Chronik der lettischen Besatzung. Die Botschaft des Augenzeugen — IR, 14.3.2014
• Henrihs Strods, Besatzung der Baltischen Staaten: Forschung, Terminologie, Periodisierung
• Inesis Feldmanis, Besatzung Lettlands: historische und internationale rechtliche Aspekte
• Inesis Feldmanis, Lettland, 1939-1940 — Besetzung,, Annexion, Inkorporation Lettlands Verständnis und Anwendung von Konzepten
• Inesis Feldmanis, Der wahre Beginn der Besatzung LA, 2.10.2004
• Rihards Treijs, Über die Besatzung Lettlands im Jahr 1940
• Das Lettische Nationale Archiv der Geschichte.
• „Besatzungsregime in Lettland von 1940 bis 1959“ Das Lettische Institut für die Geschichte

  • Aivars Stranga „Die erste Etappe der lettischen Besatzung: 23. August 1939 bis Anfang 1940“. (Artikel der Lettischen Historikerkommission)
    • Totalitäre Besatzungsregime in Lettland von 1940 bis 1964“. (Artikel der Lettischen Historikerkommission)

„Verschleppt, verbannt, verschwunden – Deutsche Kriegsjugend in Stalins Lagern und Gefängnissen“

Lesung von Grit und Niklas Poppe am Mittwoch, dem 19. April 2023, 18.00 Uhr

Musik: Detlef Jablonski

Bereits 1945 erfolgten die ersten Verhaftungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die sowjetischen Geheimdienste auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland. Allein zwischen Herbst 1945 und Frühjahr 1946 wurden 56 Jugendliche und Kinder aus Potsdam zum Tode oder zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, davon 14 erschossen.

Die Jugendlichen verschwanden spurlos. Ihre Familien erfuhren nicht, weshalb sie verhaftet waren und wohin sie gebracht wurden. Den Geheimdiensten völlig ausgeliefert, ohne jeglichen rechtlichen Beistand und Kontaktmöglichkeiten zu ihren Familien waren sie eingesperrt.

Die ehemaligen Gefängnisse in der Leistikowstraße und Lindenstraße oder eine Villa in der Geschwister-Scholl-Straße waren solche Potsdamer Orte, in dem die „abgeholten“ jungen Menschen unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt, verhört und von SMT-Gerichten abgeurteilt wurden.

Grit Poppe und Niklas Poppe haben die Schicksale von sechzehn jungen unrechtmäßig Inhaftierten, die die Haft in der Leistikowstraße und die anschließende Verschleppung in den Gulag überlebt haben, in ihrer Dokumentation nacherzählt und lesen aus ihrem noch unveröffentlichten Manuskript.

An diese Jugendlichen, stellvertretend für alle zu Unrecht Inhaftierten, die in den ehemaligen Gefängnissen dem Terror der sowjetischen Geheimdienste ausgesetzt waren, möchten wir an diesem Tag mit dieser Lesung erinnern und ihrer gedenken.

Wie alljährlich wollen wir im Anschluss an diese Lesung der Opfer der stalinistischen Gewalt an den Gedenktafeln an der Mauer des ehemaligen Gefängnisses mit Kränzen oder Blumen gedenken.

Die Lesung wird gefördert durch den Brandenburgischen Literaturrat aus Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg.

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Nikita Sokolow: Die staatliche Geschichtspolitik Russlands und die russischen Historiker

Nikita Sokolow, russischer Historiker. Essay.

Die staatliche Geschichtspolitik Russlands und die russischen Historiker. Ein Leben im Gegenstrom der Zeit.

Vorgetragen am 23. August 2022 in der Potsdamer Gedenkstätte Leistikowstraße. Eine Veranstaltung des Vereins Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam. Ins Deutsche übersetzt von Andrej Steinke.

^«En Russie, l'histoire fait partie du domaine de la couronne; c'est la propriété morale du prince comme les hommes et la terre y sont sa propriété matérielle; on la range dans les garde-meubles avec les trésors impériaux, et l'on n'en montre que ce qu'on en veut bien faire connaître. Le souvenir de ce qui s'est fait la veille est le bien de l'Empereur; il modifie selon son bon plaisir les annales du pays, et dispense chaque jour à son peuple les vérités historiques qui s'accordent avec la fiction du moment.»
Astolphe-Louis-Léonor, marquis de Custine. La Russie en 1839. Bruxelles, 1844. V.4. p.35^

^(In Russland ist die Geschichte Teil der Krone. Sie ist das moralische Eigentum des Prinzen, sowie die Menschen und die Erde ihr materielles Eigentum sind. Man räumt sie in die Möbel, wo sich die kaiserlichen Schätze befinden. Man zeigt nur diejenigen, die der Öffentlichkeit präsentiert werden sollen. Die Erinnerung, die sich am Vorabend ergeben hat, ist der Schatz des Kaisers. Er modifiziert nach seinem Ermessen die Annalen des Landes und verbreitet unter seinem Volk historische Wahrheiten, die sich der momentanen Fiktion anpassen.
Ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Jansen)^

Der Europäische Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus wird am 23. August begangen, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts im Jahre 1939. Nach Ansicht vieler Historiker ebnete dieses Abkommen, ergänzt durch ein Geheimprotokoll über die Aufteilung der Einflusssphären in Europa, den Weg in den Zweiten Weltkrieg. Die russischen Machthaber jedoch sind nicht einmal bereit, Hitlerismus und Stalinismus zu vergleichen, geschweige denn gleichzusetzen.
Es ist mir eine große Ehre und Freude, im Rahmen der Gedenkveranstaltung an diesem denkwürdigen Tag mit einem kurzen Essay über die Situation der Historiker und der Geschichte im heutigen Russland zu sprechen. Dieses Thema hat nicht nur für Russland unerwartet an Bedeutung gewonnen. Ganz besonders jedoch für Russland, dessen Historiker und dessen Machthaber offenbar in völlig entgegengesetzten Zeitströmungen existieren. Die Historiker bewegen sich in die Zukunft, die Machthaber in die Vergangenheit. Die Historiker sind sich sicher, dass die Koexistenz unterschiedlicher (politischer, genderspezifischer, interethnischer usw.) Narrative über die Vergangenheit und der Dialog zwischen diesen möglich und notwendig sind. Den Machthabern geht es dagegen um eine autoritäre Monopolisierung der öffentlichen Geschichte im Rahmen des einzig zulässigen, höchst eklektischen etatistischen Narrativs.
Die wissenschaftliche Geschichtsforschung in Russland entwickelt sich insgesamt, wenn auch mit einer gewissen nachvollziehbaren Verzögerung (bedingt durch die langjährige humanitäre Autarkie der Sowjetzeit), im Einklang mit den Trends der globalen Wissenschaft, als deren Teil sie sich begreift. Man kann sagen, dass die neuen Möglichkeiten und Einschränkungen, die die Sozialwissenschaften des späten 20. Jahrhunderts durch die zunehmende Komplexität der Forschungsparadigmen – gewöhnlich als “Wendungen” bezeichnet – erfahren haben, von der russischen akademischen Gemeinschaft der Geschichtswissenschaftler übernommen und verinnerlicht wurden. Die Liste dieser kognitiven Wendungen (anthropologisch, linguistisch, soziologisch, pragmatisch, räumlich, visuell, materiell, reflexiv u.v.m.) ist lang, jedoch hinreichend bekannt.
Insgesamt kann man sagen, dass die russische Gesellschaft auch die Nachfrage nach einer methodologisch modernen Geschichtswissenschaft äußert. Ein von Soziologen im Auftrag der Freien historischen Gesellschaft Russlands 2017 erstellter Bericht zeigt: In Russland gibt es zwei Gedächtnisse. Das erste ist staatlich: Es wird von den Medien verbreitet (“von oben nach unten”) und erzählt in aller Regel von der heldenhaften Vergangenheit eines großen Staates, wodurch eine stark wertende und ideologisch widersprüchliche Färbung der Vergangenheit erzeugt wird. Das zweite Gedächtnis ist das “Gedächtnis des Volkes”: Es wird dem Einzelnen von seiner Familie, seinen Vorfahren und seinem Heimatort verliehen. Es fließt “von unten nach oben” und speist sich vor allem aus familiären und lokalen Quellen. In dieser Version der Vergangenheit steht das Individuum im Mittelpunkt und nicht der Staat, der meistens als Peiniger und Zerstörer fungiert. Nichtsdestotrotz wirkt dieses Gedächtnis auf die Versöhnung der Zivilgesellschaft hin, nach dem Motto: “Anerkennung ja, Rache nein”.
Beispielhaft hierfür sind die Aufsätze, eingereicht für den Wettbewerb “Der Mensch in der Geschichte. Das 20. Jahrhundert”, welches 20 Jahre lang von MEMORIAL International veranstaltet wurde. Die Autoren der Aufsätze zeigen wenig Interesse für die heldenhaften Siege des Staates.
Der Kern des Familiengedächtnisses der Menschen sind die Erinnerungen an die Tragödien des zwanzigsten Jahrhunderts, und die schlimmste von ihnen ist nicht einmal der Krieg, sondern die bolschewistische Kollektivierung – die “Entbäuerung” Russlands.
Die Machthaber hingegen propagieren ein archaisches Geschichtsbild, charakteristisch eher für das 19. als für das 20. Jahrhundert. Dieses Bild zeichnet sich durch einen Eklektizismus der Großartigkeit aus: Die Geschichte Russlands ist immer und zu allen Zeiten großartig. Das Zarenreich, das Imperium und die UdSSR verschmelzen zu einer Einheit.
Symbolisch wurde dieser Weg bereits im Dezember 2000 eingeschlagen, als der Staatsrat den Beschluss über die russischen Staatssymbole fällte: Zu diesen wurden die demokratische, im Russischen Reich als “Handels-“oder “Volksflagge” bekannte “Trikolore” (die am 22. August 1991 zur Staatsflagge erklärt wurde), der zaristische Doppeladler als Wappen und die Melodie der sowjetischen Staatshymne. Letzteres war Putins erster wichtiger symbolischer Schritt hin zur Rückkehr nicht einfach nur zur sowjetischen Vergangenheit, sondern zum stalinistischen Heldenmythos: Kein neuer Text (damals gab es noch keinen) hätte über die Verherrlichung Lenins und Stalins hinweg täuschen können, die für immer mit dieser Melodie verbunden war.
Diese Symbolik offenbart die zentrale Fälschung des historischen Gedächtnisses, die von den neuen russischen Machthabern begangen wurde, nämlich die Auswechslung der historischen Grundlage des modernen Russlands. In der Anthropologie gibt es ein wichtiges Konzept: den Gründungsmythos der Nation, ein Ereignis, mit dem die politische Nation symbolisch den Beginn ihrer Existenz verbindet. Für Frankreich ist es die Erstürmung der Bastille, für die USA die Unabhängigkeitserklärung, und für die UdSSR – die Große sozialistische Oktoberrevolution. Für das neue Russland wäre es natürlich gewesen, einen demokratischen Mythos zu konstruieren, einfach und eindeutig zu begründen mit den Ereignissen vom August 1991, als das kommunistische Regime innerhalb weniger Tage von freien Bürgern gestürzt wurde. Doch die Werte der Augustrevolution – Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte – sind dem Putin-Regime völlig fremd. Und so wurde der “große Sieg” von 1945 zum Gründungsdatum der russischen politischen Gemeinschaft erklärt. In diesem Konstrukt steht dieser Sieg für sich allein, völlig losgelöst von der Erinnerung an den schrecklichen, blutigen Krieg. Legt man einen solchen Ausgangspunkt fest, schiebt sich die Figur von Stalin, dem “Generalissimus des Sieges” in schneeweißer Paradeuniform, völlig selbstverständlich in den Vordergrund. Gleichzeitig spaltet diese Figur die russische Gesellschaft zutiefst, denn die Erinnerung an die Repressionen und die Kollektivierung ist für sie ebenso wichtig und schmerzhaft wie die Erinnerung an den Krieg.
Der Kampf um das angestrebte Vergangenheitsbild wird im Bereich der “öffentlichen Geschichte” ausgetragen, die sich im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft nicht darauf beschränkt, korrekte Antworten auf bestimmte Fragen zu finden, sondern einen kohärenten und in sich stimmigen “nationalen Narrativ” erfordert. Ende der 1990er Jahre, als der Kampf um die Monopolstellung eines dieser Narrative beginnt, lassen sich mit relativer Genauigkeit fünf konkurrierende Narrative erkennen:
1. Die neue “staatliche Schule”. Grundzüge des Konzepts: Die führende Rolle und die Verdienste der “Erbauer des Staates” werden hervorgehoben. Jegliche Kosten und Opfer sind gerechtfertigt, denn sie dienen dem Ziel, Russland als Großmacht zu etablieren. Die Großartigkeit des Staates wird an den einverleibten Territorien gemessen, die Expansion nach außen stets damit begründet, für Sicherheit zu sorgen und Zugang zu Ressourcen und Handelswegen zu erringen. Die Haupthelden dieser Erzählung sind Peter der Große, Stalin und Alexander III., die Antihelden sind sämtliche Revolutionäre und Dissidenten. Verschwiegen werden in erster Linie die negativen Errungenschaften der “Helden” (mit denen sich ihre “Erben” auseinandersetzen müssten, was sie als Nichtsnutze und Versager erscheinen ließe) und die Verbrechen des Staates (die Stärkung der Leibeigenschaft und das Leiden der Bauern unter Peter, der Gulag, die Repressionen und die Opfer der “Modernisierungen von oben”).
2. Das liberale Konzept. Grundansatz: Die Geschichte Russlands ist eine Chronik des Kampfes der Gesellschaft gegen den Staat um das Recht, die Geschicke des Landes zu bestimmen. Es ist eine Geschichte der schrittweisen Entwicklung des Staatswesens in Richtung einer Demokratie nach europäischem Vorbild. Ihre Helden sind liberale Reformer wie Alexander I., Nikita Chruschtschow, Michail Gorbatschow, Boris Jelzin (mit einigen Vorbehalten), Vertreter der liberalen Intelligenzija, Führer der Konstitutionell-Demokratischen Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Dissidenten der sowjetischen Menschenrechtsbewegung. Die Haltung zu Peter dem Großen ist zwiespältig: Er wird als “Westler” gelobt, jedoch für seine grausamen Reformmethoden verurteilt. Die Antihelden sind Iwan der Schreckliche und Stalin. Die Expansion nach außen wird in einigen Fällen gerechtfertigt (vor allem im Osten und Süden, da sie den dort lebenden “rückständigen Völkern den Fortschritt brachte”), im Westen (Polen, Baltikum) wird sie jedoch verurteilt, da sie höher entwickelten Völkern rückständige Staatsformen auferlegte. Vernachlässigt wird dabei das komplexe Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie.
Diese beiden Narrative sind sehr weit verbreitet und stehen in starkem Wettbewerb zueinander. Die drei nachfolgenden sind weit weniger beliebt.
3. Das nationalistische Konzept. Grundansatz: Russland ist ein “Staat des russischen Volkes”, die Geschichte des Landes ist die schrittweise Erschließung des eurasischen Raums durch den russischen Ethnos. Ukrainer und Belorussen sind Teil des russischen Volkes. Die Helden sind Peter der Große, Alexander III., Kusma Minin und Dmitri Poscharski, Generalissimus Alexander Suworow, Marschall Georgij Schukow, sowie antisemitische Schriftsteller (allen voran Dostojewski und Solschenizyn). Die Antihelden sind polnische Rebellen, Bolschewiken mit jüdischen Wurzeln (Leo Trotzki, Grigorij Sinowjew, Lew Kamenjew, Wladimir Lenin, dessen Mutter mit Nachnamen Blank hieß). Die Essenz des historischen Prozesses ist der Kampf um Ressourcen zwischen Vertretern verschiedener ethnischer Gruppen, denen angeborene, unveränderliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Das moderne, konstruktivistische Konzept der Nationenbildung und die Bedeutung der Multinationalität für moderne Gesellschaften werden ausgeblendet.
4. Das zivilisatorische Konzept. Grundansatz: In der Weltgeschichte gab es mehrere rivalisierende Zivilisationen, eine davon war Russland, ebenso wie beispielsweise Europa. Die Zivilisationen gründen sich auf unterschiedliche religiöse Traditionen, die ihrerseits die verschiedenen Arten des Wirtschaftens und die Beziehungsformen zwischen Staat und Gesellschaft vorgeben. Die Helden sind die Schöpfer der russischen Kultur und des russischen Staates, die den “Sonderweg” Russlands zu begründen suchten. Die Antihelden sind die Westler, die das falsche Ziel verfolgten, nämlich den Rückstand auf Europa aufzuholen. Die Expansion nach außen im Rahmen des eigenen “zivilisatorischen Areals” ist etwas ganz natürliches. Verschwiegen werden fruchtbare Anleihen von Institutionen und die Bereiche, in denen Stadialität (technischer Fortschritt) unbestreitbar ist.
5. Das postkoloniale Konzept. Die gesamte Geschichte ist die Geschichte von unterdrückten Klassen und sozialen Gruppierungen. Die Helden sind “einfache Leute”, Frauen, Vertreter unterworfener Völker sowie Anführer von Volksaufständen. Antihelden sind despotische Herrscher, deren Handeln für die unterdrückten Bevölkerungsgruppen verheerende Auswirkungen hatte: Peter der Große, Katharina die Große und Stalin. Die Anhänger dieses Ansatzes sind nicht immer bereit, die positive Rolle des Staates und der Eliten in der Entwicklung des Landes anzuerkennen.
“Der Kampf um die Vergangenheit” hat zahlreiche Formen angenommen. “Austragungsorte” dieses Kampfes ist der Lehrplan für den schulischen Geschichtsunterricht, sind Feiertage und Museumsausstellungen, und die Praktiken des Gedenkens sowie die Gesetze, die das Gedenken regeln. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, was ein kurzer Essay ohnehin nicht leisten kann, möchte ich hier nur die wichtigsten Etappen dieser Monopolisierung des historischen Diskurses durch die Machthaber aufzeigen.
Der erste Angriff der neuen staatlichen Schule galt den Schulbüchern. Die Machthaber, gewöhnt an die “einzig richtigen” monologischen Schulbücher der Sowjetzeit, erklärten neuen Schulbüchern, die Mitte der 1990er Jahre in Russland erschienen, den Kampf. Diese waren notwendigerweise der Geschichte des 20. Jahrhunderts gewidmet (die Neubeschreibung der vorangegangenen Epochen erschien damals weniger dringend).
Am 30. August 2001 beklagte sich Premierminister Michail Kasjanow in einer Kabinettssitzung darüber, dass die Behörden den Geschichtsbüchern wenig Aufmerksamkeit schenkten und dass die Geschichte der neuesten Zeit in einer Weise dargestellt werde, die keinen Anlass zum Stolz gebe. Gemeint war das Geschichtslehrbuch von Igor Dolutskij, das dem Premierminister gezeigt wurde. Das Bildungsministerium reagierte umgehend und ließ einen Wettbewerb um ein neues Lehrbuch zur neuesten russischen Geschichte ausrufen. Am 15. März 2002 gewann das Autorenkollektiv um Nikita Zagladin den Wettbewerb des Ministeriums. Am 2. Dezember 2003 ließ Bildungsminister Vladimir Filippov das Lehrbuch von Igor Dolutskij mit dem Titel “Russische Geschichte. Das 20. Jahrhundert” von der Liste der empfohlenen Schulbücher streichen, in die es 1993 aufgenommen wurde.
Ein Vergleich der beiden Texte (von Dolutskij und von Zagladin) demonstriert recht deutlich, welches Herangehen an den schulischen Geschichtsunterricht vom Regime erwünscht wurde.
Dabei geht es nicht einmal um die Unterschiede in den berüchtigten “Bewertungen” von historischen Figuren und Ereignissen, obwohl diese durchaus wesentlich sind. So sind bei Zagladin alle Werturteile anonym: Nikolaus II. war “sicherlich klug (in der Literatur wurde er oft zu Unrecht als ein “geistiges Nichts” bezeichnet), aber sein Horizont war begrenzt”. Für das Verständnis solcher Bewertungen ist es von höchster Bedeutung, zu wissen, wer und auf welcher Grundlage die Bewertung abgibt. Dolutskij wesentlich korrekter vor, indem er sowohl Witte1 zitiert, der behauptete, dass der Zar “die durchschnittliche Bildung eines Gardeobersts aus guter Familie” habe, als auch das Tagebuch des Zaren sprechen lässt, der am Tag der Februarrevolution “Tee trank und Domino spielte” (wichtigere Ereignisse, die eine Erwähnung im Tagebuch verdienten, hat es anscheinend nicht gegeben).
Das Problem ist, dass diese zwei Schulbücher völlig unterschiedliche Auffassungen von der Bedeutung der Geschichte und dem Zweck des schulischen Geschichtsunterrichts haben. In Zagladins Buch heißt es: “Geschichtskenntnis bedeutet nicht nur, eine bestimmte Anzahl von Fakten über die Vergangenheit zu kennen, sondern auch die Fähigkeit, sie in maßgeblich und nebensächlich eizuteilen, ihre Bedeutung für die Gegenwart und die Zukunft zu erklären und die wichtigsten Tendenzen in der Entwicklung unseres Landes in den jeweiligen Phasen seiner Existenz aufzuzeigen”. Dabei wird die Einteilung der Ereignisse in “maßgeblich und nebensächlich” von den Autoren selbst vorgenommen. Wären diese mit einer anderen als der konventionell marxistischen Literatur zu diesem Thema vertraut gewesen, hätten sie die These gekannt, die in der modernen Wissenschaft als unumstößlich gilt: Unterschiedliche Konstruktionsweisen von Ursache-Wirkungs-Ketten schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich zu einem umfassenden Bild der geschichtlichen Entwicklung eines Volkes.
Dolutskij ist sich dieses Problems gänzlich im Klaren, wenn er schreibt: “Wir haben endlich begriffen, dass weder die Wissenschaftler, noch die Lehrer die absolute Wahrheit besitzen. Durch das komplexe Geflecht von Mythen – Produkten der jahrelangen Fälschung der nationalen Geschichte – müssen wir uns mühsam zu ihr durchkämpfen. Die Grundlage dieses Lehrbuches bildet daher der Dialog mit den Lesern und die gemeinsame Suche. Wer endgültige Antworten erwartet, wird enttäuscht sein. Auch gibt es in diesem Buch nicht die einzig gültige Sichtweise. Die hier dargelegten Fakten lassen unterschiedliche Schlussfolgerungen zu”.
Dolutskijs Lehrbuch ist ausgesprochen dialogisch angelegt. Hier prallen unterschiedliche Auslegungen historischer Ereignisse in Form von Dokumenten und Beschreibungen aufeinander, präsentiert als Argumente für unterschiedliche Interpretationsansätze, von denen keiner für eindeutig richtig befunden wird. Genau das missfiel dem Premierminister so sehr. Die Kinder wurden dazu aufgefordert, zu diskutieren und den derzeitigen Präsidenten eigenständig zu bewerten. Um Denkanstöße zu geben, wurden u.a. der Publizist Juri Burtin, der schrieb, dass in Russland seit der Wahl Putins ein autoritäres Regime errichtet werde, und Grigorij Jawlinski, Vorsitzender der Partei Jabloko, der Russland einen “Polizeistaat” nannte, zitiert.
Bei Zagladin ist der Dialog eindeutig fiktiv. Die mit der Standardüberschrift “Standpunkt” versehenen Kästchen enthalten drei oder vier anonyme Thesen, die mit dem Inhalt des nachfolgenden Textes in keinem Zusammenhang stehen. “Sekundäre” Informationen werden aus der Erzählung gestrichen, und die Liste der Streichungen spricht Bände. Der Bürgerkrieg wird in bester sowjetischer Tradition ausschließlich als Kampf zwischen den Roten und den Weißen präsentiert. Die “Grünen” werden nur am Rande erwähnt, da sie keine “einheitliche Ideologie” gehabt haben sollen. Inzwischen hat sich in der Wissenschaft längst eine wesentliche korrektere Sichtweise des Bürgerkriegs etabliert, die seit Kurzem den Weg in die Schulbücher findet, nämlich als Kampf zwischen drei, nicht zwei Lagern. Und so genügt es eben, wie Dolutskij es tut, die Proklamation der Rebellenführer Mahno und Mironov zu zitieren, um die Ideologie der “Grünen” – also der Bauernmassen – auch einem nicht besonders hellen Zehntklässler zu erklären.
In Zagladins Lehrbuch finden die “repressierten Völker” keinerlei Erwähnung, weder in Bezug auf die Deportationen der Stalinzeit, noch auf die teilweise Rehabilitierung unter Chruschtschow. Das “Entfachen des Nationalismus in den autonomen Republiken Russlands” in den Jahren 1990-91 und der spätere tschetschenische Separatismus springen damit völlig grundlos und ohne jegliche historische Einordnung wie der Teufel aus der Schachtel. Es fühlt sich seltsam an, daran erinnern zu müssen, dass es in der realen Geschichte Episoden gegeben hat, die nicht nur Stolz, sondern auch Scham hervorrufen. Mit Dolutskijs Lehrbuch bestand die Hoffnung, dass die russischen Kinder den heutigen Konfliktherd im Kaukasus etwas reflektierter betrachten würden, hätten sie doch erfahren, dass “eine 1956 einberufene Untersuchungskommission, die die Umstände der Vertreibung untersuchen sollte, in tschetschenischen Dörfern die Knochen von Frauen, Kindern und älteren Menschen fand, die bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren”.
In Zagladins Buch gibt es keinen Platz für Informationen über die Blockade von Leningrad, sie gar nicht erst erwähnt wird. Die pathetisch aufgeladenen Schlussfolgerungen (“Der Hauptakteur und der Sieger in diesem Krieg war das multinationale Volk der UdSSR”) bleiben damit als typisch sowjetische Wortblasen in der Luft hängen. Die Menschen mit ihren Hoffnungen und Sehnsüchten, ihrem Leiden und ihren Opfern, kommen bei Zagladin nicht vor. Stattdessen präsentiert er eine “historische Gesetzmäßigkeit” und den Staat als ihren bevollmächtigten Vertreter, den wir in jedem Zustand zu lieben verpflichtet sind.
Bei all seinen Unzulänglichkeiten war Dolutskijs Lehrbuch in der Tat das, was es zu sein vorgab, nämlich “ein Schritt zur Schaffung eines kombinierten Geschichtslehrbuchs der neuen Art, eines Lehrbuchs also, das das Denken lehrt und daher auf einer Synthese aus Lehrbuch (Texten), Lesebuch (einer Vielzahl von historischen Quellen) und Aufgabenbuch (problematische und lehrreiche Fragen und Aufgaben) basiert”. Dagegen ist Zagladins Lehrbuch, das vom Ministerium genehmigt wurde, eine Art Katechismus, den es auswendig zu lernen und zu glauben gilt, “weil er absurd ist”.
Erstmals in der postsowjetischen Zeit unternimmt Zagladin in seinem Lehrbuch den Versuch, die Verbrechen des stalinistischen Staates mit einer “historischen Gesetzmäßigkeit” zu rechtfertigen: “Die tiefliegende Voraussetzung für die Massenrepressionen der Jahre 1936-38 waren die Gegensätze, die im Zuge der sozialistischen Modernisierung entstanden sind”. Bei Dolutskij ist der Protagonist jedoch ein Individuum, und der Kern der Erzählung ist dessen Widerstand gegen die Unterdrückung des Verbrecherstaates.
Zagladins eher fades Produkt konnte die Machthaber jedoch nicht völlig zufrieden stellen. Am 27. November 2003, bei einem Treffen mit Historikern in der Russischen Staatsbibliothek, formulierte Wladimir Putin die Aufgabe noch deutlicher: “Früher konzentrierten sich die Historiker auf das Negative, weil die Aufgabe darin bestand, das bestehende System zu zerstören. (…) Heute haben wir eine andere, nämlich schöpferische Aufgabe. Dabei ist es wichtig, all den Staub und Belag zu entfernen, der über die Jahre aufgetragen wurde”, denn Lehrbücher “müssen bei den jungen Menschen den Stolz auf ihre Geschichte und ihr Land wecken”.
Das neue “normative” Produkt wurde von der Kreml-Administration im Sommer 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt. Der von einem Team von Polittechnologen unter der Leitung von Alexander Filippov erstellte Lehrerleitfaden zur Geschichte des 20. Jahrhunderts verwirft den liberalen Konsens der Perestroika gänzlich und zeichnet ein neues Modell der Vergangenheit, das die heute Regierenden der russischen Gesellschaft aufzwingen wollen. Seine wichtigsten Merkmale sind:
- Geschichte als Kampf von “Zivilisationen”, von ungleichen sozialen Welten, die mit lebendigen Organismen vergleichbar sind.
- Russland wird wieder einmal als “belagerte Festung” dargestellt, umzingelt von Feinden, der größte und gefährlichste von denen die USA sind.
- Daraus ergibt sich die absolute Unabdingbarkeit und Notwendigkeit des “russischen Regierungsmodells”, das mit periodischen “Mobilisierungen” der Bevölkerung und der Konzentration der Ressourcen in den Händen eines autoritären Staates einhergeht.
- Der Terror wird als Mittel zur Entwicklung einer leistungsfähigen gesellschaftlichen Elite gerechtfertigt – einer Klasse von Menschen nämlich, die “das Unmögliche vollbracht” haben.
- Die UdSSR verdankt ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg einem starken Staatswesen und dem weisen Stalin persönlich.
Die Tatsache, dass das Buch von Polittechnologen verfasst wurde, ist bezeichnend: Kein einziger professioneller Historiker war bereit, sich an diesem Projekt zu beteiligen.
Aber trotz intensiver behördlicher Werbung für das Buch weigern sich die Lehrer, es als Leitfaden zu nutzen.
Die 2013 verkündete Idee der Schaffung eines einheitlichen Geschichtslehrbuchs wurde von der akademischen und pädagogischen Gemeinschaft ebenfalls torpediert. Die Fachleute ließen die Schaffung einer neuen “kanonischen Erzählung” mit dem vermeintlich gleichen normativen Wert wie Stalins “Kurzer Kurs der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion” einfach nicht zu. Anstelle des einheitlichen Narrativs erschien der “Historisch-kulturelle Standard”, ein Leitfaden, der aus Namen und Daten ohne jegliche Einordnung besteht und die wichtigsten Ereignisse und Akteure der russischen Geschichte auflistet.
In den traditionellen Bereichen des schulischen Geschichtsunterrichts hatte die staatliche Schule also nur wenig Erfolg. Nach diesen Misserfolgen scheint es den Managern der “Geschichtspolitik” klar geworden zu sein, dass ein Schulbuch in der gegenwärtigen Situation nicht das wichtigste Mittel ist, um das gewünschte Bild der Vergangenheit zu propagieren, und dass der Berufsstand der akademischen Historiker und Pädagogen sich ziemlich hartnäckig dagegen wehrt.
Den größten Umfang und einen gewissen Erfolg erreichte die Propagierung des neuen Geschichtskanons im visuellen Bereich. Seit 2013 wird in Russland ein System von multimedialen Geschichtsparks unter dem Titel “Russland: meine Geschichte” aufgebaut, die dazu berufen sind, die gesamte Geschichte Russlands von der Antike bis zur Gegenwart abzubilden. Die riesigen Pavillons enthalten keine materiellen Artefakte. Die Geschichte wird ausschließlich auf Multimedia-Bildschirmen präsentiert. Die Pavillons bestehen aus jeweils 4 Ausstellungen, die ursprünglich getrennt voneinander gezeigt wurden. Die erste Ausstellung mit dem Titel “Die Romanows”, entstanden auf Initiative des Patriarchenrates für Kultur mit Unterstützung der Moskauer Regierung, wurde am 4. November 2013 in der Moskauer Manege eröffnet. Folgeausstellungen im Rahmen des Projekts wurden ebenfalls in der Manege gezeigt. 2015 wurde im Pavillon 57 der Ausstellung der wirtschaftlichen Errungenschaften in Moskau eine Dauerausstellung eröffnet. Diese konsolidierten Ausstellungen wurden in 24 russischen Städten nachgebaut und um kleine regionale Abschnitte ergänzt, die zur Ehre der Regionalhistoriker außerordentlich hochwertig und professionell gemacht sind. Der 25. historische Park soll nächstes Jahr im besetzten Lugansk in der Ostukraine eröffnet werden. Das Konzept der Parks ist völlig archaisch und erinnert an die Geschichtsdarstellung im 19. Jahrhundert: Die Geschichte wird “nach Zaren und Fürsten” erzählt, und jedem Herrscher ist ein eigener Bereich gewidmet. Der Erfolg einer Regierung wird ausschließlich am Gebietsgewinn gemessen. Alle Erfolge des Landes gehen auf das Konto der Herrschenden. Alles Böse kommt von äußeren Feinden und inneren Verrätern. Zu den Letzteren gehören alle Kräfte, die eine Liberalisierung des Systems anstrebten: Revolutionäre, liberale Theoretiker, Anführer von Kosakenaufständen usw.
Die Historiker haben die Schaffung der Parks scharf kritisiert, denn sie seien unwissenschaftlich und klerikal. Das Bildungsministerium riet den Universitätsrektoren dennoch, die Ausstellungen der Parks für den Geschichtsunterricht zu nutzen. Putin forderte, die Parks, die nun auch von Schulklassen besucht werden, ins nationale Bildungsprogramm aufzunehmen.
In der Ausstellung wird nahezu immer nur eine Seite gezeigt, die Stimmen von verschiedenen Menschen finden kein Gehör. Wird über die Dissidenten der Sowjzzeit berichtet, werden dabei ausschließlich Zitate von Filipp Bobkow, dem Leiter der 5. Abteilung des KGB, die gegen “ideologische Sabotage” kämpfte, verwendet. Der Gedanke an eine polyphone und variantenreiche Geschichte scheint den Organisatoren der “historischen Parks” gar nicht erst in den Sinn gekommen zu sein. Das größte Manko der Ausstellungen sind nicht einmal ganz konkrete Fehler, sondern der grundsätzliche starre Monologismus. Eines der Hauptthemen dieses Monologs ist die systematische Opposition Russlands gegenüber dem feindlichen “Westen”. Die Geschichte der Zusammenarbeit Russlands mit “westlichen” Ländern, die Geschichte Russlands als eines europäischen Landes, wird dabei völlig ignoriert.
Der anfängliche Erfolg der historischen Parks war auf die Neuartigkeit der Form zurückzuführen, insbesondere in den Provinzstädten. Die Öffentlichkeit verlor jedoch schon bald das Interesse, nicht zuletzt wegen der inhaltlich extrem unprofessionellen Ausführung der Ausstellungen. So waren die Wände der einzelnen Abteilungen mit erfundenen negativen “Aussagen” über Russland geschmückt, die angeblich von Bismarck, Churchill, Thatcher und anderen europäischen Politikern stammten.
Überhaupt wird die historische Propaganda auf äußerst unprofessionelle Weise betrieben. Das mag daran liegen, dass die Berater, die Wladimir Putins Anschauungen und seine Geschichtspolitik maßgeblich prägen, für diese Arbeit nicht qualifiziert sind. Der ehemalige Kulturminister und jetzige Präsidentenberater Wladimir Medinskij (Gründer und Vorsitzender der Militärhistorischen Gesellschaft) ist Absolvent des Instituts für internationale Beziehungen und hat formal einen Doktortitel in Geschichte. Der Sachverständigenrat der Höheren Prüfungskommission für Geschichte befand seine Dissertation jedoch für unwissenschaftlich und sprach sich dafür aus, Medinskij den Doktortitel zu entziehen. Das Bildungsministerium folgte der Empfehlung jedoch nicht und verstieß damit grob gegen die Vorschriften. Metropolit Tichon (Georgi Schewkunow) von Pskow absolvierte die Drehbuchabteilung des Staatlichen Instituts für Filmkunst und debütierte im Januar 2008 mit dem Film “Der Untergang des Reiches. Die byzantinische Lektion”. Dieser wurde von Experten als plumpe publizistische Agitation bezeichnet, die mit Geschichte nichts zu tun habe. Sergej Naryschkin – seit 2012 Vorsitzender der Russischen Historischen Gesellschaft und Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes – ist Radioingenieur von Beruf.
Als Vorsitzender der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft beaufsichtigt Medinsky alle Gedenkprojekte der Machthaber. Die Gesellschaft errichtete Dutzende von Denkmälern und Gedenkstätten (für Fürst Wladimir in Moskau, für Iwan III. in Kaluga, für den sowjetischen Soldaten in der Nähe von Rshev, für die “Söhne Russlands” in Slowenien, für den “Abschied der Slawin” und die “Helden des Ersten Weltkriegs” in Moskau, Kaliningrad und anderswo, für den 100. Jahrestag des Endes des Bürgerkriegs in Sewastopol, für Alexander III. in Gattschina). Besonders bemerkenswert ist das Denkmal für Iwan den Schrecklichen in Orjol, das erste in der Geschichte Russlands. Bezeichnenderweise ist Iwan der Schreckliche nicht Teil des Denkmals zum 1000-jährigen Bestehen Russlands in Nowgorod. 1862 hatte die Nowgoroder Gesellschaft dies nicht zugelassen.
Die Behörden täuschen eine öffentliche Unterstützung für den historischen Kurs vor, indem sie pseudo-zivilgesellschaftliche Organisationen einrichten. Die aktivste von ihnen ist die Russische militärhistorische Gesellschaft unter dem Vorsitz von Medinskij, gegründet gemäß Präsidialerlass Nr. 1710 vom 29. Dezember 2012, finanziert vom Kulturministerium und von privaten Spendern.
Als die Behörden erkannten, dass diese Maßnahmen unzureichend und wenig erfolgreich waren, gingen sie zu direkten Zensur- und Strafmaßnahmen über. Am 23. April 2014 ergänzte die russische Staatsduma das Strafgesetzbuch um den Artikel 3541 “Rehabilitierung des Nazismus”. In diesem Artikel wird die “Rehabilitierung” oder Rechtfertigung des Nazismus auf die “Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Aktivitäten der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs”, die “Verbreitung von Informationen über die Tage des Militärruhmes Russlands und denkwürdige Daten im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes, die eine eindeutige Missachtung der Gesellschaft zum Ausdruck bringen” sowie auf die “öffentlich begangene Schändung von Symbolen des russischen Militärruhmes” ausgedehnt. Dieser Ansatz verwischt den Begriff des “Nazismus” und verringert seine Ablehnung im öffentlichen Bewusstsein, indem er die Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf eine Stufe mit Rowdytum stellt. Zu den denkwürdigen Daten in Russland im Zusammenhang mit der Verteidigung des Vaterlandes gehören die Ereignisse der “Eisschlacht”, die Schlacht von Kulikowo und andere Siege der russischen Waffengewalt über viele Jahrhunderte hinweg, die in dem neuen Gesetz unerklärlicherweise auch mit dem Kampf gegen den Nazismus verbunden werden.
Die Geschichtswissenschaft ist eine Suche nach der Wahrheit, die notwendigerweise mit dem Stellen von kritischen wissenschaftlichen Fragen einhergeht. Nun müssen Historiker befürchten, dass eine solche Suche willkürlich zur “Verbreitung wissentlich falscher Tatsachen” und die Entdeckung neuer historischer Quellen zur “künstlichen Erzeugung von Belastungsmaterial” erklärt werden kann. Das Gesetz verbietet es, die vom Nürnberger Tribunal festgestellten “Tatsachen zu leugnen”. Anstatt also bestimmte staatliche Praktiken grundsätzlich als kriminell zu verurteilen, schützt das neue Gesetz eine umfassende Liste von Fakten, die im Urteil des Nürnberger Tribunals enthalten sind, und verbietet gleichzeitig die Anwendung von dessen Grundsätzen auf die Untersuchung anderer Ereignisse des Zweiten Weltkriegs. Im Gegensatz zu europäischen Gedenkgesetzen, die die Erinnerung an die Opfer staatlicher Gewalt schützen, verbietet das russische Gesetz, über die Verbrechen eines repressiven Staates zu sprechen. Die Gefahr solcher Rechtsvorschriften liegt in ihrer Vagheit und der Möglichkeit der strafrechtlichen Verfolgung einer politisch inkorrekten Sicht auf historische Ereignisse.
Zum Höhepunkt der legislativen Geschichtsregulierung wurden die Änderungen der russischen Verfassung im Jahre 2020. Die wichtigsten Änderungen im Hinblick auf die “Historisierung” des russischen Grundgesetzes finden sich im neuen Artikel 67 (1), der direkt auf Artikel 67 folgt, in dem das Staatsgebiet definiert wird. Geht es nach den Verfassern, so soll der neue Artikel die Zeit offenbar auf die gleiche Weise definieren, wie der vorhergehende Artikel den Raum definiert. Es ist zu beachten, dass der neue Artikel ins Kapitel 3, welches die “Die föderale Struktur” definiert, aufgenommen wurde, was die Logik des Kapitels zerstört und seinen Sinn untergräbt. Im ersten Absatz des Artikels heißt es: “Die Russische Föderation ist die Rechtsnachfolgerin der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken”. Doch schon der zweite Absatz beginnt mit der Formulierung “die Russische Föderation, die durch eine tausendjährige Geschichte vereint ist”. Warum “tausend Jahre”? Man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Formel an das ebenfalls nicht so gut klingende “Tausendjährige Reich” erinnert. Nimmt man die genannte Zeitspanne wörtlich, so gab es vor 1000 Jahren weder die Russische Föderation noch Russland, sondern ein Land, aus dem mehrere heutige Staaten hervorgegangen sind und dessen Hauptstadt Kiew war. Absatz 3: “Die Russische Föderation ehrt das Andenken an die Verteidiger des Vaterlandes und gewährleistet den Schutz der historischen Wahrheit”. Unterschiedliche soziale Gruppen, unterschiedliche Generationen stellen unterschiedliche Fragen an die Vergangenheit und erhalten unterschiedliche Antworten. Ein staatliches Monopol, das in diesem Kontext jener von der russischen Verfassung verbotenen Ideologie gleichkommt, ist hier völlig fehl am Platz. Die Aufnahme des Begriffs der “historischen Wahrheit” in die Verfassung setzt voraus, dass der Staat über diese Wahrheit verfügt und sie beschützt. Das ist destruktiv für die Geschichtswissenschaft. Für das Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft hat das verheerende Folgen.
Gleichzeitig wird die geschichtswissenschaftliche Arbeit auch technisch erschwert. Der Zugang zu Archiven wird immer schwieriger. Am 12. November 2020 erließ Verteidigungsminister Sergej Schoigu zwei Anordnungen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die erst im März 2021 veröffentlicht wurden. Beide Anordnungen erschweren den Zugang zu den Archiven der Militärbehörde und damit die objektive Erforschung des Zweiten Weltkriegs außerordentlich. Das offensichtliche Ziel besteht darin, Forschern den Zugang zu Dokumenten des Verteidigungsministeriums zu verwehren, die Themen berühren, die für die derzeitige Führung der Militärbehörde und für die russische Regierung schmerzhaft sind, und nur solche Dokumente zu veröffentlichen, die die Rote Armee und die sowjetische Staatspolitik während des Zweiten Weltkriegs ausschließlich in einem positiven Licht darstellen.
Das ist nicht verwunderlich, denn die Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ist zu einer Art offiziellen Zivilreligion geworden, die in Russland heute ebenso wenig kritisiert werden kann wie die Orthodoxie im Russischen Reich.
Gleichzeitig werden unabhängige Fachinstitutionen angegriffen, insbesondere die Akademie der Wissenschaften. Der erste Versuch wurde 2008 unternommen, als die Präsidialverwaltung plante, Michail Kowaltschuk, einen Wladimir Putin nahestehenden Konservativen und Direktor des Kurtschatow-Instituts (eines Forschungszentrums für Kernenergie), zum Leiter der Akademie zu machen. Doch die störrischen Akademiker wählten ihn nicht zum ordentlichen Mitglied, der Plan scheiterte. Der zweite Versuch hatte mehr Erfolg. 2013 wurde die Akademie umstrukturiert. Den rechtlichen Rahmen für die Reform bildete das Gesetz Nr. 253-FS vom 27. September 2013 “Über die Russische Akademie der Wissenschaften, die Umstrukturierung der staatlichen Akademien der Wissenschaften und die Änderung einiger Gesetzgebungsakte der Russischen Föderation”. Im Ergebnis wurden die Akademien der medizinischen und landwirtschaftlichen Wissenschaften, deren akademisches Ansehen weitaus geringer ist, in die “große Akademie” eingegliedert, die umgangssprachlich so genannt wird, um sie von weniger angesehenen Organisationen abzuheben, die ebenfalls als “Akademien” geführt werden. Die finanziellen und materiellen Ressourcen der Akademie wurden dem gewählten Präsidium der Akademie entzogen und der neu gegründeten bürokratischen Einrichtung, der Föderalen Agentur für wissenschaftliche Organisationen (FANO), übertragen. Damit hat die Akademie ihre Unabhängigkeit und zum Teil auch ihre fachliche Kompetenz verloren. Im Herbst 2019 wurde eine Umfrage unter Akademiemitgliedern, korrespondierenden Mitgliedern und Professoren der Akademie der Wissenschaften zu den Ergebnissen der Reform der staatlichen Akademien durchgeführt. 64 % der Befragten stellten fest, dass “die Situation der russischen Wissenschaft in den Jahren der Reform sich verschlechtert hat”.
Auch die russischen Universitäten sind größtenteils unter bürokratische Kontrolle geraten und haben ihr fachliches Potential eingebüßt. Der Krieg gegen die Ukraine hat dem Freiheitsstreben der russischen Universitäten ein Ende gesetzt. Schon im Herbst 2022 werden sie nicht mehr in der Lage sein, eine Hochschulausbildung in den Sozial- und Geisteswissenschaften anzubieten, die außerhalb Russlands etwas wert ist. Auch mit der Freiheit der Forschung ist es vorbei. Schon seit 2005 übersteigt der Anteil der staatlichen Finanzierung der Hochschulen die Einnahmen aus den Studiengebühren. Die Staatskontrolle kam an die Universitäten, um “die Wirksamkeit der Verwendung öffentlicher Mittel zu beurteilen”, und wirkte sich allmählich auch auf den Inhalt der Bildungs- und Forschungsaktivitäten aus: Der Staat, “der die Musik bestellt”, war auf den Geschmack gekommen. Mit dem Erhalt der staatlichen Gelder haben die Universitäten den Rest ihrer Selbstverwaltung verloren. Bereits seit Anfang der 2000er Jahre wurde die Wahl von Dekanen und Lehrstuhlinhabern praktisch abgeschafft, und seit 2015 werden die Rektoren der meisten Hochschulen nicht gewählt, sondern ernannt. An reicheren Universitäten werden die Rektoren häufiger ernannt als gewählt. Die Rolle der Wissenschaftsräte an den Universitäten schwindet, heute sind es vor allem die vom Rektor ernannten Fachbereichsleiter, die sich dort einbringen dürfen. An den Universitäten hat sich die für andere staatlich finanzierte Einrichtungen typische vertikale Machtstruktur etabliert, die “akademische Freiheit” ist zu einer leeren Worthülse geworden. Die entschiedene Ablehnung der Einbindung Russlands in die weltweite Wissenschaft und die Stärkung der “einheimischen Wissenschaft”, nämlich jener, die die “geistigen Grundlagen der Souveränität” erforschen soll, haben Form angenommen.
Folglich handelt es sich bei der russischen Geschichtspolitik im Grunde um eine ultrakonservative rechte Ideologie. Diese ist teilweise in den Verfassungsänderungen von 2020 verankert. Die dort festgeschriebenen so genannten traditionellen Werte sind frei erfunden, denn in einer modernisierten postindustriellen Gesellschaft kann es sie in formalisierter Form nicht geben, sie existieren nur in der nationalen historischen Folklore und in der Ethnographie. Die Gleichschaltung – die Unterordnung aller Gesellschaftsschichten unter den Staat und seine Ideologie – ist offenkundig.
Der russischen Zivilgesellschaft fehlen indes die Mittel, um dieser archaisierenden Offensive auf das historische Gedächtnis entgegenzuwirken. Die Oppositionsparteien wurden in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. Die freie Presse wurde beseitigt. Die akademische Gesellschaft der Geschichtswissenschaftler ist geschwächt und zu einem großen Teil korrupt. Eine soziologische Umfrage, die 2019 im Auftrag der Freien historischen Gesellschaft durchgeführt wurde, hat ergeben, dass auch die Historiker die “geringe Professionalität eines Teils der wissenschaftlichen Gemeinschaft” (66 %), die “Krise der Organisations- und Finanzierungsmodelle der Wissenschaft” (64 %), die “schwache Vernetzung der Gemeinschaft” (44 %) und die “politische Befangenheit der Historiker” (43 %) als die größten Defekte ihres professionellen Milieus ansehen. Nur 2 % der Befragten waren der Ansicht, dass es “keine signifikanten Probleme” gebe.
Die “geringe Professionalität der Kollegen” ist zweifellos das größte Problem, das die Berufsgemeinschaft mit einer Kontrolle der Ausbildung und des Zugangs zum Beruf in Angriff nehmen sollte. Das System der Verleihung akademischer Titel wird jedoch nicht in vollem Umfang von Fachleuten kontrolliert, siehe den Fall Medinskij, der seinen Titel trotz Protests vonseiten der Historiker und trotz einer entsprechenden Empfehlung des Expertenrats der Obersten Prüfungskommission behalten durfte. Auch sinkt die Professionalität wegen des geringen Prestiges einer akademischen Laufbahn, die im Allgemeinen mit niedrigen Einkommenserwartungen und hohem bürokratischen Druck verbunden ist.
Die Geschichtspolitik des Staates bewerten die Forscher durchweg negativ: “Sie zielt darauf ab, eine Vorstellung von Russlands Sonderweg zu schaffen”, meinen 61% von ihnen, während 56%” finden, “Sie zielt darauf ab, ein isolationistisches Bewusstsein zu etablieren”.
Eine engagierte und solidarische Gemeinschaft der Historiker ist in Russland potenziell möglich, ihre Herausbildung ist jedoch nicht abgeschlossen. Diese Gemeinschaft verbindet das gemeinsame Engagement für wissenschaftliche Standards bei der Erforschung der Vergangenheit. Die meisten der befragten Historiker, unabhängig von Wohnort, Zugehörigkeit und gesellschaftlichen Idealen, sind sich einig: “Geschichte ist eine Wissenschaft und hat keine anderen Ziele als das der Wahrheitsfindung”.
Ein großer Teil der Befragten betrachtet die Wissenschaft als ein einziges globales Phänomen und kann sich eine Existenz außerhalb von diesem nicht vorstellen. Ein kleiner Teil – vor allem Forscher auf dem Gebiet der russischen Geschichte – bekennt sich zu einem “akademischen Isolationismus”, indem sie die russische Wissenschaft der globalen gegenüberstellt.
Die Historiker sind sich ihres schwachen Einflusses auf die Gestaltung des Geschichtsbewusstseins der Gesellschaft bewusst, halten die Situation für ungesund und korrekturbedürftig, denn Gesellschaft und Staat, so die Mehrheit der befragten Historiker, “berücksichtigen die Lehren der Geschichte in der Regel nicht hinreichend” und “ziehen aus den Lehren der Geschichte die falschen Schlüsse”.
Die Lage des geschichtlichen Wissens in Russland ist düster. Die heutigen Zustände ähneln jenen, die Astolphe de Custine 1839 bei seinem Besuch in Russland schilderte (siehe Epigraph).
Ein russischer Bürger, der nur die “staatlich-heroische” Version der russischen Geschichte kennt – und das ist zweifellos die Mehrheit –, bekommt nicht nur ein völlig pervertiertes Bild vom Wesen der Geschichte – der freien menschlichen Tätigkeit –, sondern verliert auch die Teilhabe an der langen und inhaltsreichen Tradition der russischen “Volksherrschaft”. Es überrascht nicht, dass liberale Ideen bei einer solchen Sicht der Vergangenheit mit Misstrauen betrachtet werden und mit der nationalen Tradition unvereinbar scheinen, denn “der natürliche Weg für uns ist die Autokratie”, wie ein bekannter russischer Politiker es ausdrückte.
Das veraltete Bild der russischen Geschichte steht in klarem Widerspruch zu den demokratischen “Instinkten” der russischen Bürger (ein Zustand, der bereits als “historische Schizophrenie” bezeichnet wird) und blockiert die Bemühungen der liberalen Ideologen. Für eine erfolgreiche Entwicklung der Zivilgesellschaft wäre es sicherlich wünschenswert, ein Bild der russischen Geschichte zu fördern, das mehr im Einklang mit den von der modernen Wissenschaft entwickelten Vorstellungen ist.
In naher Zukunft ist ein solches Umdenken jedoch unwahrscheinlich, denn die russische Gemeinschaft der Geschichtswissenschaftler konnte sich nicht zu einem Expertenkreis entwickeln, der das Vertrauen der Öffentlichkeit genießen würde. Dies ist eine der traurigen Folgen der Sowjetzeit, in der eine speziell präparierte Geschichte als Grundlage der Staatsideologie diente und professionelle Historiker von der Öffentlichkeit pauschal als Diener dieses Kults betrachtet wurden.
Die Gesellschaft selbst, die von der traditionellen Vorstellung von Geschichte als “Erinnerung an die ruhmreichen Taten der heldenhaften Vorfahren” beherrscht wird, ist nicht bereit, eine Nachfrage nach einem neuartigen historischen Narrativ zu äußern. Und sie ist ganz sicher nicht bereit, eine europäische Sichtweise zu akzeptieren, der zufolge es in Ordnung ist, der Opfer von Nazismus und Stalinismus am gleichen Tag zu gedenken und die Verbrechen beider Regimes in einem Atemzug zu verurteilen, was aus russischer Sicht der Gleichsetzung dieser zwei Verbrechenskomplexe gleichkäme.

Grußwort von Bodo Platt zum EuropäischenGedenktag am 23.08.2022

Sehr verehrte Damen und Herren,

Meine Grüße aus dem Süden der Republik gelten allen Teilnehmern am Gedenken für die
Opfer beider Diktaturen. Ich bedauere sehr, nicht anwesend sein zu können und möchte
stattdessen meine Botschaft auf schriftlichem Wege überbringen, in der ich versuche,
einige mich bewegende Gedanken zu diesem Gedenktag, und darüber hinaus, zu artiku- lieren.

Wenn heute in Europa der Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus gedacht wird,
dann erinnern wir uns an den Terror, die menschenfeindliche Gewaltherrschaft zweier Diktaturen, die für Millionen Menschen die Hölle auf Erden bereitet haben.

Wer kann sich heute nur annähernd vorstellen, welche Leidenswege Menschen ertragen mussten, physischer und psychischer Gewalt, unentrinnbar einer zügellosen Willkür ausge-
setzt, in hilflosem Verlorensein, in Hoffnungslosigkeit, qualvollem Tod entgegen ?

Wer erinnert sich nicht der entleibten Körper Überlebender der Konzentrationslager, der Gaskammer entronnen, der hungernden, um Brot bettelnden Kinder auf den Straßen des Warschauer Ghettos, der Massengräber von Babyn Jar, diesen und anderen Orten grausamsten Terrors und Mordens.
Kinder, Frauen, Alte, Männer, ganze Familien, Sippen ausgelöscht !

Was nationalsozialistische Gewaltherrschaft, Hass und Menschenfeindlichkeit der europäischen Völkergemeinschaft zugefügt haben, Minderheiten in rassistischem und
antisemitischem Wahn verfolgt und ermordet, das übersteigt jede Vorstellungskraft.

Gedenken wir der Opfer dauerhaft und vergessen wir sie nie !

Einen festen Platz in der Erinnerungskultur der europäischen Nationen muß aber auch die
Stalinistische Gewaltherrschaft von 1917 – 1989 einnehmen. Ich begrüße deshalb die Entscheidung des europäischen Parlaments, der Opfer beider Diktaturen zu gedenken, wobei
ein gegenseitiges Aufrechnen und Vergleichen beider Unrechtssyteme unterbleiben sollte.
Beide Diktaturen waren in ihrer gnadenlosen Vernichtung von Menschenleben einmalig, jede in ihrer abgrundtiefen Verachtung aller humanen Werte. Der Holocaust bleibt für immer ein Menetekel in der Verantwortung unserer Nation von absoluter Einmaligkeit !

Auch der seit 1917 in der Sowjetunion millionenfach vollzogenen Exekutierten und
Hingerichteten muß aber erinnert werden, der Schauprozesse und des Millionenheeres an Arbeitssklaven in den Gefängnissen und Lagern des Gulag, die unter Ausbeutung ihrer Arbeitskraft unter erbärmlichen Lebensbedingungen in den unwirtlichsten klimatischen Zonen der Sowjetunion zugrunde gingen.

Das Elend der ukrainischen Bauern während des Holodomors 1932/33 rückt heute besonders
in unser Bewusstsein, da ein vom Größenwahn befallener Autokrat dieses Volk auf mörde-rische Weise bekriegt.

In Russland wurden unter der Herrschaft Putins sukzessive alle Aktivitäten zur Klärung der
millionenfachen Schicksale der Verfolgten des stalinistischen Terrors nach und nach erschwert und verboten, an der Diskriminierung und dem Verbot der Menschenrechts-
organisation Memorial mehr als deutlich nachweisbar. Statt einer Aufarbeitung der Schatten der Vergangenheit, wird Stalin und seine Herrschaft heute von einem nationalen Pathos der Unbesiegbarkeit und Größe Russlands überspielt, gelöscht, und stalinistisches Gewaltpoten- tial erwacht zu neuem Leben.

Aber auch hierzulande haben sich eine stattliche Anzahl von Historikern/innen redlich im Sinne des Herrschers im Kreml bemüht, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945 in ihrer Darstellung zu entschärfen, zu verschleiern,
und die Örtlichkeiten des Schreckens zu entfremden oder gar der Zerstörung preiszugeben, wie z.Bsp. in den Lagern Mühlberg oder Sachsenhausen.

Die Bitte der damals noch lebenden Zeitzeugen, ihre Leidenswege, ihre erduldeten Demütigungen, die körperliche und seelische Folter, die Ängste, die Strapazen, ihr Gefange-
nendasein in all seinem Elend schildern und der Nachwelt zur Warnung hinterlassen zu dürfen, wurde mit der Bemerkung, solche Erzählungen seien zu emotional und daher – Zitat : als „nicht nachvollziehbar“ unterbunden , ihre Zeitzeugenberichte und Schriften boykottiert
oder tausendfach konfisziert. Sie sind seitdem verschwunden. Im Müll gelandet ? Oder ver-
brannt ?

Das Ansinnen, einen Gedenkstele vom Künstler Bob Bahra zum Gedenken an die Opfer des KGB an diesem Ort zu erstellen, wurde mit der Bemerkung abgetan – Zitat : „ In der DDR habe es schon genug Denkmäler gegeben !“ Statt den damals noch lebenden Zeitzeugen, Gehör und Raum für eine Mitwirkung bei der historischen Aufarbeitung zu ermöglichen, wurden sie systematisch zum Verstummen gebracht. Heute leben sie fast alle nicht mehr.

Als einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen gedenke ich jener, die unschuldig in den Speziallagern der sowjetischen Besatzungszone an Hunger, Distrophie, an Ruhr und Tuber- kulose, an Entkräftung umgekommen sind, in Massengräbern verscharrt, willkürlich verhaftet
und interniert – und es waren beileibe nicht alle Nazis, wie gewisse Historiker/innen undif-
ferenziert behaupten. Viele Verhaftete und zu Tode oder zu 25 Jahren Verurteilte wurden vom russischen Hauptmilitärstaatsanwalt rehabilitiert als „Opfer politischer Repression“, waren also einer „Säuberung“ als politisch unzuverlässige Personen zum Opfer gefallen. – Und ich gedenke der zahlreichen in der Butyrka in Moskau erschossenen Frauen,Männer und Jugend- lichen.

Das Verbergen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von sowjetischem Militär und Geheimdiensten verübt, hat auch hierzulande dem Narrativ Vorschub geleistet, mit einem friedlichen Staat unter Führung eines lupenreinen Demokraten könnte Europa durch Handel und Wandel kooperieren, allen sich abzeichnenden Gefahren zum Trotz.

Dem Diktator im Kreml, der mit Krieg, der Unterwanderung mittels Unterstützung rechtsradikaler Parteien und Cyber-Attacken die europäischen Demokratien zu zerstören ver-
sucht, dem gilt es eindeutig Widerstand zu leisten, um unsere freiheitliche Gesellschafts- ordnung und Menschenrechte zu verteidigen.Dem Großmachtstreben eines Kriegsverbrechers, der sich auf den Spuren Stalins bewegt, muß die europäische Völkergemeinschaft widerste- hen.

Deshalb ist der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus gerade
heute so bedeutsam. Er erinnert an die katastrophalen Folgen menschenverachtender Ideologien mit Allmachtsansprüchen, die für Millionen friedliebender Menschen und für ihre Kinder und Kindeskinder Tod und Verderben bedeutete.

Wir Nachgekommenen und Zeitzeugen eines Jahrhunderts unsäglicher Tragödien stehen in der Pflicht und in der Verantwortung laut und unüberhörbar unsere Stimme zu erheben, wenn es gilt für Menschlichkeit, Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Freiheit, für Versöhnung zwischen den Völkern und den gemeinsamen Kampf um den Erhalt unserer kostbaren Erde einzustehen.

Ich wünsche und hoffe, dass der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus einen weitreichenden Widerhall erfahren möge und in unserer Gesell- schaft zur dauerhaften Erinnerung der leidvollen europäischen Geschichte beiträgt.

Seien Sie herzlich gegrüßt !

Bodo Platt
Ehemals 1.Sprecher der Zeitzeugen-Initiative „Ehemaliges KGB.Gefängnis Leistikowstraße
Potsdam“

Einladung zur Gedenkveranstaltung am 23. 08.2022 „Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“

Der Verein Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis lädt alle Interessierten zu einer Gedenkveranstaltung anlässlich des „Europäischen Gedenktages für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ am 23. August 2022 um 18.00 Uhr in die Gedenk- und Begegnungsstätte Leistikowstraße Potsdam ein.

Bodo Platt, 1948 Politischer Häftling in der Leistikowstraße und heute Sprecher der Zeitzeugeninitiative “Ehemaliges KGB-Gefängnis”, wird an die ehemaligen Häftlinge erinnern.
Nikita Sokolow, ein in Russland bekannter Historiker, Publizist und Journalist, der wegen der dort herrschenden politischen Zustände z.Z. in Deutschland weilt und Stipendiat der Universität Bielefeld ist, wird über „Russlands staatliche Geschichtspolitik und seine Historiker. Ein Leben im Gegenstrom der Zeit“ berichten. Er war Vize-Direktor für Forschung im Moskau-Museum und in der Präsidialstiftung von Boris Jelzin, Vorsitzender des Verbandes unabhängiger Historiker in Russland sowie bei MEMORIAL aktiv.

Gianni Jiosuè Wiede wird auf seiner Violine die Veranstaltung musikalisch umrahmen.

Im Anschluss daran findet ein Gedenken auf dem Hof des ehemaligen KGB-Gefängnisses in der Leistikowstraße 1 in Potsdam statt.

Dieser Gedenktag mahnt uns immer wieder, für Demokratie, Freiheit und gegen jegliche Gewaltherrschaft in ganz Europa zu kämpfen.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist eine Zäsur in Europa.
Er bestätigt und bestärkt unseren Verein darin, uns weiterhin für die Wahrnehmung des Europäischen Gedenktages an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus einzusetzen. Der am 04.09.2009 vom Europäischen Parlament angenommene Gedenktag erinnert an den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, der den Weg zum Überfall Deutschlands am 01.09.1939 und der Sowjetunion am 17.09.1939 auf Polen ebnete.
Heute führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Nach einer friedlichen Periode in Russland setzt der Kreml unter Putins Führung die kolonialen und hegemonialen Bestrebungen der damaligen Sowjetunion in grausamer Weise mit Gewalt fort.
Der russische Staat schreibt inzwischen vor, wie die Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen zu erfolgen hat und drängt die bislang zahlreichen zivilgesellschaftlichen Gruppierungen zurück oder verbietet sie sogar. Der alte Mythos, dass die Sowjetunion nur von Feinden umzingelt und deshalb die Repressionen in der Sowjetunion und die dauerhafte Besetzung des sogenannten Ostblocks eher verständlich und nötig gewesen wären, der wird heute wieder bemüht und fällt bei vielen Russen auf fruchtbaren Boden.

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Donnerstag, 21. April 2022, um 18.00 Uhr:

„Tamaschito: Roman einer Gefangenschaft“ von Wieland Förster

Lesung: Klaus Büstrin

Wieland Förster greift in seinem stark autobiografischen Roman auf seine eigenen erschütternden Erlebnisse während seiner U-Haft im Nachkriegsdresden zurück. Er wurde im September 1946 vom sowjetischen Geheimdienst als Jugendlicher festgenommen und zu 7 1/2 Jahren Haft verurteilt, die er in Bautzen verbringen musste, bis er 1950 frei kam.
Der Bildhauer Wieland Förster lebt in Wensickendorf, einem Ortsteil von Oranienburg. Wieland Förster ist 92 Jahre alt.
Seine Plastiken “Das Opfer”- gewidmet allen Opfern politischer Gewalt – und die “Nike ´89” zur Erinnerung an die Maueröffnung 1989 hat die „Fördergemeinschaft Lindenstraße 54“ mit Hilfe vieler Spender im Hof der Gedenkstätte Lindenstraße bzw. an der Glienicker Brücke in Potsdam aufgestellt.
Die „Fördergemeinschaft Lindenstraße 54“ ist Kooperationspartner bei dieser Gedenkveranstaltung.
Am 18. April 1946 wurden drei 16-jährige Schüler des heutigen Einstein-Gymnasiums in Potsdam vom sowjetischen Geheimdienst erschossen – nur der vierte von ihnen – der Fünfzehnjährige – wurde begnadigt zu „20 Jahren Arbeitslager“. Allein zwischen Herbst 1945 und Frühjahr 1946 wurden 56 Jugendliche und Kinder aus Potsdam zum Tode oder zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt, davon 14 erschossen. (Benno Prieß: „Erschossen im Morgengrauen“)
An diese Jugendlichen, stellvertretend für alle zu Unrecht Inhaftierten, die in den ehemaligen Gefängnissen dem Terror der sowjetischen Geheimdienste ausgesetzt waren, möchten wir an diesem Tag erinnern und ihrer gedenken.
Wie alljährlich wollen wir im Anschluss an diese Lesung der Opfer der stalinistischen Gewalt auf dem Innenhof an den Gedenktafeln an der Mauer des ehemaligen Gefängnisses mit Kränzen oder Blumen gedenken.
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Einladung zum Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August 2021

Beginn: 18.00 Uhr
Gedenken auf dem Hof des ehemaligen KGB-Gefängnisses in der Leistikowstraße 1 in Potsdam

anschließend um 18.30 Uhr

Gedenkkonzert in der Pfingstkirche

Große Weinmeisterstraße 49b (5 Minuten Fußweg entfernt von der Leistikowstraße 1)

Begrüßung: Pfarrer Stephan Krüger der Pfingstgemeinde und Gisela Rüdiger, Vorsitzende des
Vereins Gedenk- und Begegnungsstätte eh. KGB-Gefängnis

Neue Potsdamer Hofkapelle unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Björn O. Wiede
Rodion Shchedrin, Stalin Cocktail für Streichorchester und Cembalo

Grußwort: Linda Teuteberg, Stellv. Vorsitzende von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.,
Mitglied des Deutschen Bundestages (FDP),

Grußwort: Dr. Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen
der kommunistischen Diktatur

Samuel Barber, Adagio für Streicher
Carl Philipp Emanuel Bach, Hamburger Sinfonia A-Dur
Rodion Shchedrin, Stalin Cocktail

Im Anschluss laden wir Sie herzlich zu Getränken und Gebäck ein.

Den Stalin Cocktail komponierte Rodion Shchedrin 1992. Er selbst bemerkte dazu, es sei eine Folge von Fragmenten aus Märschen, mit denen der verbrecherische „Führer des Volkes“ der damaligen Sowjetunion gefeiert worden sei. Dazu kommen noch andere Töne wie Trommelgerassel in der Ferne, das Stöhnen der Opfer, Schüsse des Exekutionskommandos, der Aufzug der Paraden…, sowie Fetzen aus der alten russischen Romanze „Dunkle Augen“.
(Text von Stephen Maddock, CD Shchedrin Carmen Suite, Chandos, 1994)
Rodion Shchedrin (geb. 1932 in Moskau) ist Mitglied der Akademie der Künste (Berlin). Er lebt in München und Moskau.

Eine Veranstaltung des Gedenkstättenvereins in Kooperation mit dem Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie

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Begrüßungsworte für die Feier mit Kranzniederlegung zum Europäischen Gedenktag 23.08.2020 von der Vereinsvorsitzenden Gisela Rüdiger

Ich begrüße Sie, liebe Frau Bonk und ihre Tochter, liebe Frau Martins, (liebe Frau Jann und Herr Jann), lieber Peter Seele und deinen Sohn, sehr geehrter Herr Schlüter.
Leider können die meisten Zeitzeugen nicht mehr nach Potsdam kommen. Ihre Gesundheit und ihr Alter lassen weite Reisen nicht mehr zu. Einige haben uns geschrieben und schicken Grüße, die ich hiermit gern weitergebe: von Frau Blazcyk, von Herrn Platt, von Herrn Utech (und von Frau Jann)
Leider kamen wieder zwei Einladungen, die wir an Zeitzeugen geschickt hatten, ungeöffnet zurück.
Ich begrüße herzlich Frau Dr. Haustein vom MWFK, Frau Dr. Seemann von der Stadt Potsdam, Herrn Körner von der LAKD und Herrn Lange, den stellvertretenden Vorsitzenden der UOKG.
Sehr geehrter Beiratsvorsitzender Herr Vogel,
Liebe Mitglieder des Vereins Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis
Sehr geehrte Frau Dr. Reich. Ich danke Ihnen, dass die Gedenkfeier wieder hier stattfinden kann.
Liebe Frau Dr. Giesen.
Zum 5. Mal richtet unser Verein „Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam” den „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ hier in der Leistikowstraße aus. In diesem Jahr ohne einen zentralen Vortrag und ohne das sonst übliche Büfett. Wir alle hoffen, dass wir Sie im nächsten Jahr wieder zu einer größeren Gedenkfeier einladen können.

Die Zeitzeugeninitiative, zu der sich ca. 20 ehemalige Häftlinge aus diesem Gefängnis vor etwa 10 Jahren zusammengeschlossen hatten, widmet in diesem Jahr ihren Kranz den Jugendlichen, die durch die Verhaftungswelle der sowjetischen Geheimdienste ihre Jugend verloren haben.
Diese Jugendlichen wurden aus dem Schulunterricht heraus, aus den Wohnungen ihrer Eltern, oft des Nachts oder in den frühen Morgenstunden festgenommen. Damals hieß es, sie wurden „abgeholt“. Sie waren 15, 16, 17, 18, 19, 20 Jahre alt. Sie wurden von Mitarbeitern der sowjetischen Geheimdienste in Keller gesperrt, gefoltert, verhört, völlig allein gelassen ohne ihre Eltern oder Angehörige oder einen Anwalt sprechen zu können. Die wenigsten von ihnen kamen wieder frei.
Benno Prieß listet in seinem Buch “Erschossen im Morgengrauen“ allein für Potsdam 56 Namen von Jugendlichen auf, die zwischen dem Herbst 1945 und dem Frühjahr 1946 “abgeholt” wurden. Die meisten Schicksale der Jugendlichen sind bis heute nicht aufgeklärt. Von 14 wissen wir, dass sie erschossen wurden. In ihren Rehabilitierungs-Urkunden, soweit sie vorliegen, steht, dass sie in Potsdam erschossen wurden. Wo die Erschießungen stattfanden und wo ihre Gräber sind, ist bis heute nicht bekannt.
Einer der 1945 zum Tode verurteilten und dann zu einer langjährigen Haftstrafe begnadigten Jugendlichen aus Potsdam war Heinz Schwollius zur Zeit seiner Verhaftung 16 Jahre alt.
In seinem Buch „Aus der Todeszelle in die Hölle von Bautzen“ beschreibt er sein Schicksal. Seine Todeszelle ist hier in diesem Gefängnis zu sehen, fast noch im Original.
Elternlos, wohnungslos hatte Heinz Schwollius 1945 eine Arbeit als Betreuer bei der „Antifaschistischen Jugend“ angenommen. Wenig später wurde er aufgefordert, in die KPD einzutreten, was er und andere jedoch ablehnten. Diese Ablehnung, und der Umstand, dass er sich von Amerikanern im Fahrzeug mitnehmen ließ, als er zu Fuß von einem Besuch seiner Tante in Berlin nach Potsdam unterwegs war, führten wohl zu seiner Verhaftung, sowie eine mögliche Denunziation.

Heinz Schwollius beschreibt in seinen Erinnerungen das Lebensgefühl vieler Jugendlicher der unmittelbaren Nachkriegszeit wie folgt: „Wohl jeder, der 1945 das Ende des Krieges und die zurückliegenden Jahre der Bombenangriffe, sowie die Wochen der letzten Kämpfe überlebt hatte, glaubte nun an eine friedvolle und mit Hoffnung verbundene Zukunft. Besonders die Jugendlichen waren überzeugt, nun ihrem Leben einen neuen Sinn geben zu können“.
Auch in anderen Erinnerungsberichten von ehemaligen Häftlingen habe ich häufiger solche damals gehegten Hoffnungen lesen können.
Diese Jugendlichen wurden bitter enttäuscht.
Den Zwang, den Heinz Schwollius spürte, als er in die KPD eintreten sollte, spürten viele Jugendlichen in der SBZ. Dem Zwang sich politisch zu äußern, sich zu verhalten konnte sich kaum jemand entziehen.
Die Sowjetische Besatzungsmacht ließ keinen Raum für eine freie Entfaltung der Jugendlichen zu. Eine Demokratisierung der Gesellschaft wurde von Anfang an unterbunden. Ein Aufbau demokratischer Strukturen war quasi verboten oder geschah nur zum Schein.

Heute kann die Gedenkstätte Leistikowstraße den Raum bilden, wo man versuchen sollte, die Schicksale der Jugendlichen aufzuarbeiten. Genau hier ist der Ort, um an ihren Leidensweg zu erinnern.

In der Sowjetunion und der damals in ihrem Machtbereich liegenden Länder Europas war eine Aufarbeitung bis 1989 nicht möglich, und leider war auch in den westlichen Demokratien, wo eine Aufarbeitung möglich war, das Interesse daran eher gering oder stark ideologisiert.
Aber seit 1989 hat sich viel bei der Aufklärung der stalinistischen Verbrechen getan. Inzwischen sind eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen veröffentlicht worden. Ich erinnere an die in den letzten Jahren erschienenen Bücher von Jörg Baberowski und Karl Schlögel oder die von den Amerikanern Anne Applebaum und Tymothy Snyder. Auch Historiker des Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung und der Gedenkstätten Leistikowstraße und Lindenstraße haben recherchiert und zu diesem Thema Bücher herausgebracht.
Aber auch Romane, wie „Atemschaukel“ von Herta Müller, haben dazu beigetragen, uns die Zeit der totalen Entwürdigung, Erniedrigung und massenhaften Ermordung von Millionen Menschen unter Stalin und Hitler näherzubringen.
Herta Müller hat in ihrem Roman das Schicksal eines jungen Mannes, der Jahre in einem Gulag verbringen musste, in einer ganz besonderen eindringlichen Weise beschrieben. Sie lässt ihn, den Überlebenden – Jahrzehnte nach seiner Lagerhaft – sagen: „Ich weiß seit 60 Jahren, dass meine Heimkehr das Lagerglück nicht bändigen konnte. Es beißt mit seinem Hunger heute noch von jedem anderen Gefühl die Mitte ab. Mittendrin ist bei mir leer“
Wie vielen der Überlebenden mag es wohl ebenso ergangen sein.
Danke
Schweigeminute einlegen für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus

Einladung zum „Stillen Gedenken“ am 18. April

Der Verein Gedenk- und Begegnungsstätte ehemaliges KGB-Gefängnis Potsdam möchte auch in diesem Jahr an die vielen zu Unrecht in dem ehemaligen Gefängnis in der Leistikowstraße Inhaftierten erinnern. Alljährlich haben wir am 18. April Kränze oder Blumen an den beiden Gedenktafeln an der Mauer des Gefängnisses abgelegt, was in diesem Jahr nicht möglich ist. Am 18. April 1946 wurden die drei 16-jährigen Schüler Klaus Tauer, Klaus Eylert und Joachim Douglas des heutigen Einstein-Gymnasiums in Potsdam erschossen – nur Herrmann Schlüter wurde zu „20 Jahren Arbeitslager“ begnadigt. Als der Schulunterricht im Herbst 1945 wieder begann, war nur noch etwa die Hälfte der Schüler der alten Klasse anwesend. Etliche waren mit ihren Eltern geflohen, andere sind in den letzten Kriegstagen umgekommen. Am Russischunterricht in dieser Schule wollten jedoch viele Schüler aus der Klasse nicht teilnehmen, sondern spielten lieber Fußball. Noch im Frühjahr hatten sie bei Krampnitz Schützengräben ausheben müssen und eine militärische Ausbildung im Bornstedter Feld erhalten. Im Oktober 1945 wurden die Schüler Fuhrmann, Theo Waßmer und Joachim Douglas aus dem Unterricht heraus vom sowjetischen Geheimdienst abgeholt und wenige Tage später wieder entlassen. Zwei von ihnen flohen über die Glienicker Brücke in den Westen. Joachim Douglas blieb. Im November wurde auch Klaus Tauer aus dem Unterricht heraus verhaftet und am 18. Dezember wurden Herrmann Schlüter und Klaus Eylert früh morgens aus ihren Betten geholt. Joachim Douglas wurde ein paar Tage später, am 24. Dezember, wieder verhaftet. Sie wurden in das Haus in der Victoriastraße 54, der heutigen Geschwister-Scholl-Straße, gebracht, gefoltert und zum Tode wegen angeblicher „feindlicher Einstellung zur Sowjetunion und Wehrwolf-Tätigkeit“ verurteilt. Nach der Verurteilung wurden alle mit einigen zum Tode verurteilten Offizieren der Wlassowarmee und zwei weiteren Offizieren in das Gefängnis in die Leistikowstraße gebracht. Ihre Gnadengesuche wurden abgelehnt, nur Hermann Schlüter, der jüngste wurde begnadigt. Hermann Schlüter verstarb am 15.5.2018 in Potsdam. Alle vier wurden am 11. März 1993 rehabilitiert. An diese Schicksale möchten wir an diesem 18. April stellvertretend für alle zu Unrecht Inhaftierten, die dem Terror der sowjetischen Geheimdienste ausgesetzt waren, in stillem Gedenken erinnern. (Zwischen Herbst 1945 und Frühjahr 1946 sind 56 Jugendliche und Kinder von Potsdam zum Tode oder zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, davon sind 14 erschossen worden -- Zusammenstellung von Benno Prieß in „Erschossen im Morgengrauen“)

Öffentliches Zeitzeugen-Gespräch mit Horst Goltz am Mittwoch, dem 30.10.19, um 18.00 Uhr im Gemeindesaal der Pfingstkirchengemeinde, Große Weinmeisterstr. 49a

Horst Goltz, (Jahrgang 1930) ist ein wichtiger Zeitzeuge, der sein ganzes Leben in Potsdam gelebt und gearbeitet hat. Mitschüler 1946 der Klasse unserer vier Jungen der Einstein-Realschule: Douglas-Eylert-Tauer-Schlüter, unschludig verhaftet 1946, Todesurteil. Nur Hermann Schlüter wurde „begnadigt“. Da Horst Goltz sich früh für Biologie und Pflanzenschutz interessiert hat, konnte er in Potsdam bleiben: Pflanzenschutz war ein wenig „ideologie-verdächtiger“ Beruf. Wie hat Horst Goltz das Kriegsende in Potsdam erlebt? Was kann er über das Verschwinden seiner Mitschüler berichten? Wie erlebte er die Nachkriegsjahre im Land Brandenburg und in der D D R? Worüber konnte man vor 1989 berichten? Zudem besitzt Herr Goltz eine einzigartige Sammlung alliierter Flugblätter, die 1944/1945 zur Kapitulation aufrufen. Damals eine höchst gefährliche Sache. Alltagsleben in der D D R – hier ein Leben ohne traumatisierende Brüche.

Moderation: Karen Plate-Buchner und Richard Buchner

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Jugendproteste an der Einstein-Realschule Potsdam, 1946 und 1950

Mittwoch, 25. September: Diskussion mit Schülern des Einstein-Gymnasiums

17 Uhr – Führung durch das Haus (Dr. Buchner)
18 Uhr – Zeitzeugengespräch mit Christian, Erika und Bettina Runge:

1) Vortrag Dr. Christian Runge (Jg. 1932) über seinen Bruder. Peter Runge (1929-2009) wird im Mai 1946 inhaftiert, weil er statt einer roten eine weiße Nelke getragen hat.[Häftling in Potsdam, Lindenstraße, dann im Lager Sachsenhausen]. Er hat das Glück, 1950 frei zu kommen, statt in Stasi-Haft überstellt zu werden. Doch fast seine ganze Klasse ist nun über West-Berlin nach Bremen geflüchtet. (Die Mauer wurde ja erst 1961 gebaut.) Auch Peter Runge wählt die Flucht. Die Einstein-Realschule Potsdam wird nun 1950 aufgelöst, Neubegründung als Einstein-Gymnasium nach 1989. Peter Runge wird durch die Russische Föderation offiziell rehabilitiert.

2) Julius Klingemann, Einstein-Gymnasium 2019, hat soeben mit einem Forschungsprojekt zu den Jugendprotesten in Potsdam 1946 bis 1950 den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten gewonnen: Schülerinnen und Schüler befragen den Zeitzeugen Christian Runge. Auch die Schwestern Dr. Erika Runge (Jg. 1939) und Bettina Runge stehen als Zeitzeugen zur Verfügung.

3) Offene Diskussion mit allen Besuchern, Moderation: Dr. Richard Buchner

Eintritt frei – wir freuen uns auf Ihr Kommen und Ihre Fragen. – Der Vorstand

Die Veranstaltung wird unterstützt von der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

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Europäischer Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus am 23. August 2019 um 18.00 Uhr

Programm

Begrüßung: Dr. Richard Buchner, Vors. Gedenk- und Begegnungsstätte ehem. KGB-Gefängnis e.V.

Grußwort: Reiner Walleser, Abteilungsleiter Kultur, Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur, Land Brandenburg

Grußwort: Dr. Birgit-Katharine Seemann, Fachbereichsleiterin Kultur und Museen Landeshauptstadt Potsdam

Festvortrag „1939 – Über den Zusammenhang von Appeasement-Politik und Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“, Prof. Dr. Karl Schlögel, Osteuropahistoriker, Autor, Träger zahlreicher Auszeichnungen und Preise, darunter der Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2018, Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaft und die Künste

Solist: Varoujan Simonian, Violine, Johann Sebastian Bach, Sonate I g-Moll, BWV 1001, Adagio, Fuge, Fritz Kreisler, Recitativo und Scherzo-Caprice op.6

Im Anschluss daran laden wir Sie herzlich zu Getränken und einem Imbiss ein.

V.i.S.d.P. Gisela Rüdiger
E-Mail giselapotsdam@tele2.de Tel. 0331 270 04 54

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Vortrag in der Gedenkstätte Leistikowstrasse in Potsdam am 23.August 2019

1939 – Über den Zusammenhang von Appeasement und Entfesselung
des Zweiten Weltkriegs –

Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Vor genau 80 Jahren, in der Nacht vom 23. auf den 24. August 1939, wurde in Moskau der Deutsch-Sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet, nach den Außenministern auch Ribbentrop-Molotow-Pakt oder nach deren Chefs auch Hitler-Stalin-Pakt genannt. Vervollständigt wurde er einen Monat später durch den am 27.September abgeschlossenen Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. Der Hitler-Stalin-Pakt garantierte dem Deutschen Reich sowjetische Neutralität im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen und den Westmächten. In einem geheimen Zusatzprotokoll wurde Ostmitteleuropa – von Finnland bis zum Balkan – in eine deutsche und sowjetische Einflusssphäre aufgeteilt. Eine Woche nach Unterzeichnung des Vertrages in Moskau überfiel die deutsche Wehrmacht das Nachbarland Polen, am 17. September überschritt die Sowjetarmee die Ostgrenze Polens. Am 22. September fand die gemeinsame deutsch-sowjetische Truppenparade in Brest statt, abgenommen von den Seite an Seite stehenden Kommandierenden Heinz Guderian und Semjon Kriwoschein.
Alle diese Szenen sind genau dokumentiert – von den anwesenden Übersetzern wie Paul Schmid, Gustav Hilger, Vladimir Pawlow, Valentin Bereschkow, von Diplomaten, die, wenn sie überlebt haben, später ihre Erinnerungen veröffentlicht haben, von Kamera- und Filmteams, die Bilder für die Wochenschauen geliefert haben, Bilder, angefertigt von Hitlers Leibphotograph seit Münchner Tagen, Heinrich Hoffmann. Die Bilder sind zu Ikonen geworden und beglaubigen, was die Welt am Tag nach der Unterzeichnung nicht glauben konnte: Dass die ideologischen Todfeinde von gestern über Nacht sich einvernehmlich über freundschaftliche Zusammenarbeit geeint hatten. Eine Schockwelle ging durch die Hauptstädte, die Zeitungsleser rieben sich die Augen, die einen sahen sich verlassen und verraten, die Welt am Abgrund, andere atmeten auf, weil die Welt endlich wieder im Lot war, Russland und Deutschland endlich wieder zu normalen und guten Beziehungen zurückgekehrt waren, der Frieden in Europa gerettet war. Wie die Europäer schon wenige Tage später lernen mußten: es war nicht der Beginn einer Friedenszeit, sondern der Starter für den Zweiten Weltkrieg, das Ende einer Zeit, die im Nachhinein als Zwischenkriegszeit bezeichnet wurde, Teil 2 der Weltkriegspoche, an deren Ende Europa in Schutt und Asche gelegt und der Krieg dorthin zurückgekehrt war, wo er seinen Ausgang genommen hatte: Deutschland.
Es ist 10 Jahre her – exakt: der 2.April 2009 , dass das Europäische Parlament eine Entschliessung zum „Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ annahm, in der der 23. August zum „Gedenktag für die Opfer aller totalitären und autoritären Regimes“ erklärt wurde. Es gibt nicht viele Orte, an denen die Erinnerung an dieses Datum fest und wachgehalten wird. Die Gedenk und Begegnungsstätte Leistikowstrasse in Potsdam, in der seit Jahren an die hier Verhafteten Gefolterten, Verurteilten, Deportierten, Getöteten erinnert wird, ist einer der wenigen Orte, um eine Geschichte in den Blick zu nehmen, die immer noch unendlich weit entfernt ist und im Wahrnehmungshorizont von uns Deutschen kaum vorkommt: das Schicksal der Welt und jener Völker und Individuen, die nach den Abmachungen des Paktes zwischen die Fronten der beiden totalitären Mächte. Sowjetrussland und Nazi-Deutschland geraten und zu Opfern einer doppelten Diktaturerfahrung geworden waren. Es fällt uns, die wir doch so vorbildlich uns mit der eigenen Geschichte auseinandergesetzt haben wollen, immer noch schwer, die Geschichte anderer zur Kenntnis zu nehmen oder gar zu verstehen. Die Initiative des Europäischen Parlaments ist, auch wenn es seither ein Europäisches Museum in Brüssel oder ein Weltkriegsmuseum in Danzig gibt, wo dieser Erfahrung Ostmitteleuropas in gewissem Sinne Rechnung getragen wird, noch immer ganz am Anfang, es ist so etwas wie „invention of tradition“, ein Prozess, der nicht per Knopfdruck bewältigt werden kann, sondern wohl etwas mit der Alltags- und Lebenserfahrung der Gesellschaften des östlichen Europa zu tun hat. Überall hat, nachdem im östlichen Europa Diktatur und Zensur gefallen waren, ein Prozess der Spurensicherung, der Dokumentation, der Befragung der Überlebenden, der Publikation von Erinnerungen eingesetzt, die Licht ins Dunkel bringen wollen, an denen man aber auch ablesen kann, wie ungemein kompliziert es ist, eine Geschichte zu vergegenwärtigen, die voller heilloser Verstrickungen war. Überall sieht man die Bemühungen, mit einer Geschichte, die sich „zwischen den Fronten“ abgespielt hat, klar zu kommen. Eine neue Museums- und Erinnerungslandschaft hat sich seit dem Ende des Ostblocks herausgebildet, alte Dauerausstellungen werden umgestellt und modifiziert. In einem postmodernen Glaspavillon am Fusse des Dombergs in Tallinn wird die Erfahrung der Esten mit der sowjetischen und der deutschen Okkupation dargestellt. In unmittelbarer Nachbarschaft zum rekonstruierten Schwarzhäupterhaus in Riga ist das ehemalige Museum der Lettischen Schützen in ein Museum der Okkupation umgewandelt worden. In Wilna gibt es ein Museum der Opfer des Genozids, untergebracht in einem Gebäude am Gediminas-Prospekt, das sowohl von Gestapo wie von NKWD/KGB genutzt worden ist, und abgetrennt davon, an einem eigenen Ort, dem Fort 16 in Kaunas, das Museum, in dem die Vernichtung der litauischen Juden dargestellt wird. Oft sind es Gefängnisse, die von beiden Seiten genutzt worden sind, und oft gibt es Orte, an denen die Massengräber der einen neben den Massengräbern der anderen liegen. In den Gefängnissen von Lemberg/Lwow/Lviv, in Kiew in der Schlucht von Baybj Jar und dem Wald von Browary, in den Parks und Sportanlagen von Winniza. Und es gibt die Orte, an denen der Widerstand gegen beide mörderische Systeme dokumentiert ist – etwa im Weltkriegsmuseum in Danzig, im Museum des Warschauer Aufstands in Warschau, im Nationalmuseum in Kiew.
Warum der 23.August eben kein gesamteuropäischer lieu de memoire ist oder geworden ist, hat viele Gründe: in jedem vom Pakt und seinen Folgen getroffenen Land wird er anders erinnert. Stefan Troebst hat versucht, die unterschiedlichen Erinnerungen so zu fassen:
Für die westlich-transatlantische Welt ist der 23.August als das Datum der Aufteilung Ostmitteleuropas in eine national-sozialistische und sowjetische Hälfte „so gut wie nicht präsent“ (Troebst) und ist überlagert von den Grossen Drei der Anti-Hitler-Koalition, dem D-Day und dem Holocaust-Geschehen.
Im westlichen Deutschland ist die Zeit von 1939 bis 1941 überlagert von dem Nachfolgenden: dem „Vernichtungskrieg im Osten“, Auschwitz, Bombenkrieg und Flucht und Vertreibung.
Für Ostmitteleuropa stellt sich dieses Datum ganz anders dar. 1939 ist das symbolische Datum für das Ende der nach dem Ersten Weltkrieg errungenen Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit sowie der Beginn eines doppelten und grausamen Besatzungsregimes, der Beginn einer Zwangssowjetisierung, die nach dem Sieg über die deutsche Wehrmacht wieder aufgenommen wurde und bis zum Ende der Sowjetunion angehalten hat.
In Russland war bis zum Ende der Sowjetunion die Existenz des Zusatzabkommens überhaupt bestritten worden, der Pakt selbst wurde interpretiert als Reaktion auf die Weigerung des Westmächte zu einem gemeinsamen System der kollektiven Sicherheit und als ultima ratio, um Zeit zu gewinnen für die Vorbereitung auf den unaufhaltsam sich nähernden Krieg Hitler-Deutschlands gegen die Sowjetunion; die Zeit gemeinsamer deutsch-sowjetischer Herrschaft über Ostmitteleuropa verschwand gleichsam im Schatten des deutsch-sowjetischen Krieges und der ungeheuerlichen Opfer der Völker der Sowjetunion, vor allem im Schatten des Triumphes im Grossen Vaterländischen Krieg: des offiziellen Tages des Sieges, der nicht so sehr ein Tages der Trauer um die Im Krieg verlorenen Angehörigen war. In diesem Narrativ erscheint Stalin als überlegender Stratege und Garant des späteren Sieges, ein Narrativ, das sich abgewandelt sich bis heute hält und das nicht zuletzt durch eine Gesetzgebung abgesichert werden soll, die die kritische Interpretationen als Verleumdung, Geschichtsfälschung und unpatriotisches Verhalten unter Strafe stellt.
Noch einmal anders und widersprüchlicher stellt sich die Rezeption etwa in der unabhängig gewordenen Ukraine dar, existiert sie heute doch in den durch den Pakt gezogenen Grenzen, während sie gleichzeitig die Geschichte ihres Unabhängigkeits-Kampfes gegen beide – die stalinistische Sowjetunion und Nazi-Deutschland – betont.
Diese Differenzen in der Interpretation und Einordnung spiegeln unterschiedliche und oft konkurrierende Erfahrungen wieder und lassen sich nicht einfach durch ein konstruiertes und ideales gemeinsames europäisches Narrativ überbrücken. Diese unterschiedlichen und oft sehr verwickelten geschichtlichen Erfahrungen auszuhalten und zu verarbeiten, beginnt damit, sie sich erst einmal anzuhören, sie einzulassen in den eigenen Horizont – und dabei freilich alle meist nationalistischen Idealisierungen und Mythisierungen zurückzuweisen (was nicht einfach ist).
Wir bewegen uns, was den 23.August als Gedenktag angeht, durchaus nicht in einem oft schon zum Recycling gewordenen, gleichförmigen und oft allzu bequemen Erinnerungsritual, sondern lassen uns auf eine offene Strecke ein – mit allen Zumutungen und Risiken, die damit verbunden sind. Wie können wir, die Nachgeborenen, die so weit ab von diesen Erfahrungen sind, hier überhaupt mitreden, wie können wir eine Sprache finden für eine unendlich verwickelte und tragische Geschichte, die der Erzählung der Sieger etwas entgegen zu setzen hat und der Erfahrung der Opfer auch nur halbwegs gerecht wird?
Ich habe mich in der Vorbereitung auf diesen Vortrag in der Literatur umgesehen – sie ist riesenhaft, unüberschaubar: von den Zeitzeugen unter den Diplomaten – Hilger, Schmidt, Molotow , den Tagebuchschreibern und Protokollanten – Iwan Majski – den quellenbasierten Arbeiten deutscher wie ausländischer Historiker nun schon mehrerer Generationen, die sich alle einen Reim zu machen versucht hatten – von Andreas Hillgruber, Sebastian Haffner oder Lew Besymenski, bis zu den neuesten Arbeiten wie die von Roger Moorhouse und Claudia Weber, sogar eine Lektüre einschliessend, die in der Regel von der internationalen Historikerzunft als unwissenschaftlich, apologetisch, revisionistisch be und verurteilt wird wie Viktor Suworows Buch mit der These vom „Eisbrecher“.
Den ausgezeichneten Sammelband der Zeitschrift Osteuropa zum 70.Jahrestag 2009 studierend, kam es mir so vor, dass ich etwas grundsätzlich Neues zum Thema nicht beisteuern kann, um so mehr als ich kein Experte in Diplomatie-Geschichte und Aussenpolitik bin und noch weniger ein Militärhistoriker, der man eigentlich sein müßte, um die diversen, auch im Verborgenen spielenden Verbindungen aufdecken und verstehen zu können. Das zu sagen, ist wichtig in Potsdam mit seiner Konzentration von militärgeschichtlicher Expertise. Was ich aber wohl machen kann, ist den Blick auf etwas zu richten, was mir neu erscheint. Jede Zeit richtet neue Fragen an die Geschichte und ringt um Antworten. Das kann man sehen, wenn man auf den Baltischen Weg, also jene Menschenkette von über eine Million blickt, die am 23.Augut 1989 von Vilnius über Riga bis Tallinn reichte. Es handelte sich eben nicht nur um eine akademische Frage. Damals ging es noch um den Kampf darum, ob das Geheime Zusatzabkommen überhaupt existiert hat, oder ob es sich um eine böswillige Unterstellung und Erfindung von antisowjetischen Propagandisten und Agenten handelt. Die Bildung einer Menschenkette von weit mehr als einer Million war Ausdruck des Unabhängigkeitsstrebens der baltischen Völker war, der Anerkennung und Nichtigerklärung des Vertrags durch den Kongress der Volksdeputierten im Dezember 1989 in Moskau – womit auch das Ende der Sowjetunion eingeleitet war. Damals stand die Auseinandersetzung um die geschichtliche Wahrheit im Zusammenhang mit dem Kampf um die Wiedergewinnung der Souveränität der baltischen Staaten und die Auflösung des sowjetischen Imperiums.
Seither hat sich die Welt noch einmal geändert und mit ihr auch die Fragerichtung. Es ist seither manches geschehen, was im Erwartungshorizont der Zeit nach 1989, nach dem endlich eingetretenen Ende des Kalten Krieges und der Teilung Europas, nicht vorgesehen war: die Rückkehr des Krieges nach Europa – zuerst in Jugoslawien und Russland -, dann die Verschiebung der Grenzen eines souveränen Staates – Russlands Annexion der Krim und der Krieg in der östlichen Ukraine – eine Nachkriegszeit, die in vielem fast wie eine Vorkriegszeit erscheint, schliesslich ein amerikanischer Präsident, der aufgehört hat, Umgangsformen und Regeln des internationalen Verkehrs zu respektieren. Überall geschahen Dinge, die man sich bis vor kurzem „nicht hatte vorstellen“ können: Wie immer man diesen Zustand bezeichnen will, neue Weltunordnung, Ende der Bipolarität, Wiederkehr des Kalten Krieges, gewiss ist, dass es neue Bedrohungsszenarien gibt, die man sich in der Euphorie der Nachwendezeit nicht hatte vorstellen können. Der Angriff Putin-Russlands auf die souveräne Ukraine, die Annexion ukrainischen Territoriums und der bis heute anhaltende unerklärte Krieg im Donbass – all das hat im östlichen Europa eine Erfahrung reaktiviert, die nicht einfach als psychologische Empfindlichkeit oder Phobie von Balten, Polen, Weissrussen oder Ukrainern abgetan werden kann, sondern etwas mit historischer Erfahrung zu tun hat, einer Erfahrung, von der man im westlicher gelegenen Deutschland immer noch wenig oder zu wenig weiss, und die man nicht zur Sprache bringen will, weil jede Kritik der sowjetischen Politik sogleich als Ablenkung von den ungeheuerlichen Verbrechen, die die Deutschen im Osten Europas begangen haben, als Russophobie, Antikommunismus oder Rückfall in den Kalten Krieg stigmatisiert wird. Die Angst, noch einmal verraten und preisgegeben zu werden, beruht aber nicht auf der Einbildung von Querulanten mit einer leichten psychologischen Macke. Die Rhetorik des Appeasement und der angeblichen Realpolitik ist denen, die im 20. Jahrhundert die Rechnung dafür bezahlen mußten, wohl geläufig. Man sollte sich daher nicht wundern, wenn Balten, Polen, Ukrainern Assoziationen zum Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt und Freundschaftsabkommen samt Geheimprotokollen in den Sinn kommen, wenn in einer Situation territorialer Annexion, offener Gewaltausübung und fortgesetzter Drohung von Seiten der Russischen Föderation eine Gas-Pipeline fertig gebaut wird, so als wäre nichts geschehen.
Geschichte wiederholt sich nicht, aber es gibt Konstellationen und Verhaltensweisen, die aufschlussreich sind, die einen sensibel machen können, für das was jetzt geschieht. Es gibt keine Rezepte, die man unmittelbar aus der Geschichte ableiten kann, und Analogien führen meist in eine Sackgasse, aber man kann daran den historischen Sinn schulen, um wach zu sein und sich fit zu machen für die Gegenwart. Dass etwas miteinander zu vergleichen nicht bedeutet, etwas gleichzusetzten – diese Selbstverständlichkeiten lernt man schon in den ersten Klassen der Grundschule, haben es in einer Öffentlichkeit, die sich für reif und erwachsen hält, aber immer noch schwer.
Aus dieser Vorrede folgt, dass ich mich im Folgenden vor allem mit drei Themen beschäftigen werde:
Erstens: Was heißt es überhaupt, sich mit der Erfahrung derer vertraut zu machen, die für fast zwei Jahre – von September 1939 bis Juni 1941 – Objekt einer doppelten totalitären Herrschaft geworden sind? Wir müssen uns erst einmal einer Erfahrung öffnen, die in der Regel in unserem Horizont nicht oder kaum vorkommt. Wir müssen erst einmal hinhören.
Zweitens: Wenn es eine Lehre gibt, dann die, dass Appeasement und Realpolitik die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges nicht verhindert, nicht einmal hinausgezögert haben, sondern Teil seiner Entfesselung war. Dabei darf man wesentliche Unterschiede – etwa zwischen Appeasement und aktiver Kooperation oder Kollaboration – nicht übersehen.
Drittens: Was sind die Langzeitfolgen dieser Doppelherrschaft und Doppelerfahrung? Was heißt es, eine Sprache für die Erfahrung der Opfer zu finden, die es mit den Meistererzählungen der Sieger aufnehmen kann?

Erstens: Was heißt es überhaupt, sich mit der Erfahrung derer vertraut zu machen, die für fast zwei Jahre – von September 1939 bis Juni 1941 – Objekt einer doppelten totalitären Herrschaft geworden sind?
Fast auf die Stunde genau begann 8 Tage nach der Unterzeichnung des Nichtangriffs-Pakts am 1.September der deutsche Angriff. 60 Divisionen, 2.500 Panzer, über 1 Millionen Soldaten überschritten die 2.000 Kilometer lange polnische Grenze aus drei Richtungen. Wie Hitler es in seiner Ansprache an die Oberbefehlshaber am 22.August ausgedrückt hatte, war das Ziel: „Vernichtung Polens – Beseitigung seiner lebendigen Kraft“. Erstmals wurde eine Millionenmetropole Ziel von Luftangriffen, über 500 Städte und Dörfer wurden niedergebrannt; 700 Massenhinrichtungen in den ersten Wochen des „Blitzkrieges“ zeigten, was dem von Deutschen besetzten Polen bevorstand.
Am 17.September, nachdem trotz Beistandsverpflichtung und Kriegserklärung Frankreichs und Englands kein wirklicher Angriff auf Deutschland erfolgte, sondern eher etwas, was man als „drole de guerre“ bezeichnet hat, nachdem kurz zuvor der sowjetisch-japanische Grenzkonflikt in der Mongolei beigelegt war, der die Gefahr eines Angriffs auf die Sowjetunion im Fernen Osten bannte, wurde dem polnischen Botschafter in Moskau Waclaw Grzybowski mitgeteilt, dass, nachdem die polnische Regierung aufgelöst sei und der polnische Staat zu existieren aufgehört habe, die Sowjetregierung nicht gleichgültig bleiben könne gegenüber den bjelorussischen und ukrainischen Blutsbrüdern auf polnischem Territorium. Molotow nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen am 17.September 1939:
„Die Ereignisse, die durch den polnisch-deutschen Krieg hervorgerufen wurden, haben die innere Haltlosigkeit und offensichtliche Handlungsunfähigkeit des polnischen Staates bewiesen. Die herrschenden Kreise haben Bankrott gemacht…In Anbetracht all dessen hat die Sowjetregierung…dem Oberkommando der Roten Armee die Verfügung erteilt…die Grenze zu überschreiten und das Leben und das Eigentum der Bevölkerung der Westukraine und Westbjelorusslands unter ihren Schutz zu nehmen“.
Sowjetische Truppen überschritten 3 Uhr morgens die Grenze. Polnische Truppen, die verzweifelt gegen die vorrückenden deutschen Truppen kämpften, wurden im Rücken von sowjetischen Streitkräften angegriffen. Wehrmacht und Rote Armee rückten, wie zuvor vereinbart, in koordinierten Aktionen vor und praktizierten eine Interaktion, die für beide Regime in der Zeit zwischen September 1939 und Juni 1941 charakteristisch werden sollte. Auf die gemeinsame Siegesparade und die offizielle Erklärung, dass man gemeinsam Ordnung ins „polnische Chaos“ bringen wolle, folgte am 27.September eine weitere Konferenz in Moskau, deren Ergebnis der Vertrag über Frieden und Freundschaft war, sowie ein weiteres Geheimabkommen, in dem der genaue Grenzverlauf zwischen beiden Mächten präzisiert wurde: Finnland, Estland, Lettland, Litauen (einschliesslich Wilna) sollten der sowjetischen Interessensphäre angehören – später auch die Nordbukowina und Bessarabien -, Wojewodschaften im Westen wurden dem Reich angegliedert (Warthegau), das übrige Polen (mit Warschau und Krakau) zum Generalgouvernement erklärt. Nach dieser berichtigten Grenzziehung war Polen gleichsam zweigeteilt, der westliche Teil mit ca. 20 Millionen, der östliche mit ca. 12 Millionen Menschen. Mit Massenverhaftungen und Hinrichtungen – die Sonderaktion Krakau, die Ausserordentlichen Befriedungsaktionen – versuchen die Deutschen von Herbst bis Sommer jeden möglichen Widerstand im Keim zu ersticken. 50.000 Polen starben im ersten Herbst und Winter, Tausende im Sommer 1940.
Die sowjetische Seite besetzte die ostpolnischen Gebiete unter der Losung der „Befreiung“ der in der Zweiten polnischen Republik diskriminierten und unterdrückten Minderheiten der weissrussischen und ukrainischen „Brüder“. Schon wenige Wochen nach dem Einmarsch waren Räte etabliert, die um den Anschluss an die Bjelorussische und Ukrainische Sowjetrepublik ersuchten, der dann auch erfolgte. Etwas ähnliches geschah mit den drei baltischen Republiken, die um sowjetischen Beistand ersuchten und im Juni 1940 in die UdSSR aufgenommen wurden.
Fast parallell und symmetrisch waren die Aktionen beider Mächte, was die Einverleibung der Territorien anging, wenn auch unterschiedlich in Form und Vorgehen. Während es den Deutschen auf die völkisch-rassisch definierten Feinde ankam, zielten die sowjetischen Besatzer auf die „Ausbeuterklassen“. Beide zielten je auf ihre Weise auf die „Enthauptung“ der von ihnen annektierten und inkorporierten Staaten und Gesellschaften.
Teil der Besetzung und Integration in die deutsche bzw. sowjetische Machtsphäre waren Bevölkerungsverschiebungen grossen Stils. Aus den Westgebieten Polens wurden Hunderttausende von Polen und Juden vertrieben, ins Generalgouvernement abgeschoben und in Gettos konzentriert. Ganze Landstriche wie die Zamojszczyna wurden zum Experimentierfeld für bevölkerungspolitische rassistische Experimente. Raum sollte geschaffen werden für die Sammlung von „Splittern deutschen Volkstums“ und die Germanisierung der eroberten Gebiete. Die aus den baltischen Republiken, aus Wolhynien, Bessarabien, Galizien und der Bukowina „Heim ins Reich“ geholten Deutschen wurden im Warthegau, der „frei geräumt“ worden war, angesiedelt. Ost- und Mitteleuropa wurden zum Verschiebebahnhof und zur Drehscheibe für Menschenbewegungen bisher unbekannten Ausmasses. Damit war eine Kettenreaktion von Vertreibung und Umsiedlungen in Gang gesetzt, in die Millionen von Menschen hineingezogen wurden und die auch nach Ende des Krieges noch nicht zu einem Ende kamen. Doch war dies erst der Anfang dessen, was die deutsche Herrschaft in Polen vorhatte: die Errichtung eines Sklavenstaates, Tod durch Hunger und Arbeit, Vernichtung des Judentums.
Die sowjetische Seite steuerte auf ihre Weise ihren Anteil zur Flurbereinigung bei, nicht so sehr der ethnischen als vielmehr der sozialen. Sie machte sich dabei Spannungen zwischen unterschiedlichen Minderheiten zunutze, was in der ethnischen, sozialen, sprachlichen, religiösen und kulturellen Gemengelage des östlichen Mitteleuropa kein Kunststück war. Weissrussen und Ukrainer gegen Polen, Polen gegen Juden, Litauer gegen Polen, Letten und Esten gegen Baltendeutsche, das ukrainische Dorf gegen die polnische Stadt und das jüdische Shtetl. Sie nutzte und schürte vorhandene Widersprüche, so daß es in vielen Fällen tatsächlich beim Einmarsch der Roten Armee zu Begrüssungsszenen von Ukrainern, Weissrussen und Juden kam, die sich sehr wohl an das ihnen in der Zweiten Polnischen Republik widerfahrene Unrecht erinnert hatten, was wiederum blutige und rasende Pogromszenen in Gang setzte, als litauische oder ukrainische Nationalisten im Schatten des deutschen Einmarsches 1941 in Kaunas oder Lemberg Tausende von Juden umbrachten.
In gezielten Aktionen gingen die sowjetischen Invasoren vor allem gegen mutmassliche Oppositionskerne, sozial und kulturell definierte Eliten, vor: also Intellektuelle, Offiziere, Unternehmer, Mitglieder nicht-kommunistischer Parteien, wohlhabende Bauern, Angehörige des Klerus und sonstige Repräsentanten des öffentlichen Lebens der jeweiligen Nation. Streng klassifizierte Kategorien der herrschenden Ausbeuterklassen – oder was man dafür hielt – wurden ausgesondert, verhaftet und ins Landesinnere deportiert. Dies betraf Hunderttausende von Bürgern, die in chirurgisch präzisen „Operationen“ – die polnische, die ukrainische, die baltischen – deportiert wurden. Eine der paradoxen Begleiterscheinungen war, dass Deportation aus den sowjetisch besetzten Gebieten oftmals lebensrettend sein konnte: Juden, die aus Pinsk oder Lemberg nach Kasachstan im Frühjahr 1940 deportiert worden waren, befanden sich nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion glücklicherweise ausserhalb der Reichweite der deutschen Sonderkommandos und konnten so, wenn sie Verbannung und Lager in der sowjetischen Hälfte überlebt hatten, in den 1950er Jahren zurückkehren. Ein lebensbedrohender und hoch symbolischer Akt der deutsch-sowjetischen Interaktion war der Austausch deutscher Antifaschisten, Kommunisten und Juden, die in den 2 Jahren zwischen 1939 und 1941 aus dem sowjetischen Gulag in deutsche Konzentrationslager überstellt wurden. Die gravierendste Aktion, in der der mörderische Zug der sowjetischen Okkupationspolitik zum Ausdruck kam, war die systematische Tötung von Tausenden von Angehörigen der polnischen Armee und Intelligenz im Frühjahr 1940 in Katyn bei Smolenks, Starobelsk bei Charkow und Mjodnoje bei Twer durch Einsatzkräfte des NKWD.
Überall war das Okkupationsregime, ob von Nazis oder Stalinisten, grausam, aber die Spezifik der osteuropäischen Situation bestand meines Erachtens darin, dass es aus ihr kein Entrinnen gab, es keine Seite gab, auf die man sich schlagen konnte. Die Situation der Falle. Aus dem besetzen Frankreich gab es vielleicht den Weg über die Pyrenäen nach Lissabon und von dort weiter über den Atlantik, im östlichen Europa waren die Wege versperrt und es war eher dem Zufall anheimgegeben, ob man durchkam. Es war ein Zufall, wem man in die Hände fiel. Von zwei Schwestern beispielsweise wurde die eine in Katyn erschossen, die andere im Wald von Palmiry. Beide Schwestern. Die Brüder Wnuk wurden fast gleichzeitig exekutiert, der eine in Katyn, der andere in der Festung Lublin. „Obwohl Sowjets und Deutsche ihre Massnahmen gegen die polnische Bildungsschicht nicht koordinierten“, so Tim Snyder, „nahmen sie dieselben Gruppen aufs Korn. Die Sowjets entfernten Elemente, die sie als gefährlich für ihr System ansahen, unter dem Vorwand eines Klassenkriegs. Die Deutschen verteidigten ihre Gebietsgewinne, handelten aber auch aus dem Gefühl heraus, die niedere Rasse müsse unten gehalten werden. Letztlich waren beide Strategien sehr ähnlich, mit mehr oder weniger gleichzeitigen Deportationen und mehr oder weniger gleichzeitigen Massenerschiessungen“. Hier war nicht nur der Fluchtweg versperrt, auf das Verschwinden des einen Verfolger, folgte ein anderer: „Die doppelte Besatzung, erst sowjetisch, dann deutsch, machte das Leben der Bevölkerung nur noch komplizierter und gefährlicher. Eine einzige Besatzung kann eine Gesellschaft für Generationen zerbrechen, eine doppelte ist noch schmerzhafter und spaltender. Sie erzeugte Risiken und Versuchungen, die im Westen unbekannt waren. Das Verschwinden eines fremden Herren bedeutete nicht mehr als die Ankunft eines anderen. Wenn fremde Truppen abzogen konnten die Menschen nicht auf Frieden rechnen sondern auf die Massnahmen der nächsten Besatzer. Sie mußten die Konsequenzen ihrer Parteinahme unter den vorigen Besatzern tragen, wenn die neuen kamen, der Entscheidungen unter einer Besatzung treffen, während sie auf eine andere warteten. Für unterschiedliche Gruppen konnte dieser Wechsel unterschiedliche Bedeutung haben. Nichtjüdische Litauer z.B. konnten den Abzug der Sowjets 1941 als Befreiung empfinden, Juden sahen die Ankunft der Deutschen anders.“ (Snyder). In dieser auch von Dietrich Beyrau, Jörg Baberowski und Anselm Döring-Manteuffel beschriebenen „Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium“, in diesen „Räumen der Gewalt“ schien es kein Entkommen zu geben. Wo SS und NKWD-Leute – wie z.B. bei der Organisation der Umsiedlungsaktionen – auch personell zusammenarbeiten, eskaliert die Destruktivität wechselseitig. NKWD-Gefängnisse wurden Gestapo-Gefängnisse und umgekehrt. „…Es gab keine Grauzone, kein Randgebiet, keines der tröstlichen Klischees der Soziologie des Massenmords liess sich anwenden. Es war schwarz in schwarz…“ (Snyder).
Zur Interaktion beider Gewaltsystem gehören auch noch die Versuche beider Seiten, sich post festum Grossverbrechen gegenseitig in die Schuhe zu schieben und propagandistisch auszuschlachten, wie es im Falle Katyn geschah, wo die Nazis 1943 gleichsam im Scheinwerferlicht von Filmkameras und Forensikern Tausende von exekutierten Polen exhumieren liess, die nach der Räumung des Gebietes durch die Sowjetarmee dann als Beweis für die Massenverbrechen der Nazis herhalten mußten, über die in den Nürnberger Prozessen dann aber nicht gesprochen werden durfte. Es brauchte noch Jahrzehnte, bis zum Ende der Sowjetunion, bis die Dokumente, die dieses Verbrechen beglaubigten, veröffentlicht wurden. Präsident Jelzin übergab sie in den 1990er Jahren der polnischen Regierung, und es dauerte noch einmal ein weiteres Jahrzehnt, bis eine russisch-polnische Kommission sich über die Veröffentlichung dieser Dokumente einig werden konnte. Es ist wahrscheinlich wieder kein Zufall, dass zwei aus der ostmitteleuropäischen „Zwischenzone“ stammende Gelehrte entscheidend zur Klärung der Gewalt- und Rechtsverhältnisse beigetragen haben: Rafael Lemkin, der aus dem litausich-weissrussischen Wolkowyschk stammende und in Lemberg ausgebildete Jurist, der den Terminus des „Genozids“ erfunden und in Umlauf gebracht hat, und Hersch Lauterpacht, der aus Galizien stammende Völkerrechtler, der den Terminus „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingeführt hat. Beide, aus dem Niemandsland zwischen den Grenzen stammend, waren besorgt um das Schicksal extrem bedrohter Minderheiten, als Individuen oder in Kollektiven (Philippe Sands).
Die fast 2 Jahre deutsch-sowjetischer Herrschaft über Ostmitteleuropa sind nicht bloss eine Fußnote, eine Vorgeschichte für die eigentliche Geschichte, die erst mit dem Angriff auf die Sowjetunion beginnt, sondern eine Geschichte und Erfahrung sui generis.
Andrzej Wajdas Katyn-Film von 2007 wird eröffnet mit Szenen der Flucht – Wajdas Vater war 1940 in Starobjelsk vom NKWD exekutiert worden. Die einen rennen Richtung Osten, auf der Flucht vor der Wehrmacht, die anderen Richtung Westen, auf der Flucht vor der Roten Armee. Beide Fluchtströme treffen in einem heillosen Chaos auf der Brücke über den Bug aufeinander. Eine Szene der Verwirrung, der Ratlosigkeit, der Verzweiflung und der Ungewissheit, was ihnen bevorsteht. Diese Szene verdankt sich nicht einem dramaturgischen Einfall, sondern der Wirklichkeit.

Zweitens: wie kam es zum Abschluss des Paktes, war er wirklich wie ein „Blitz aus dem heiteren Himmel“ oder war er nicht vielmehr absehbar?
Julius Margolin, Autor eines der bedeutendsten Beschreibungen der sowjetischen Lagerwelt, der zu Besuch aus Palästina im Sommer 1939 nach Lodz gekommen, vor den Deutschen nach Osten geflohen, dort von NKWD festgenommen und ins Lager am Polarkreis deportiert worden war, war nicht der einzige, der in diesem Sommer wußte, dass es Krieg geben würde, und der es dennoch nicht glauben konnte, als er wirklich da war. Und für beides gibt es Anhaltspunkte: für die sich mehrenden Anzeichen eines kommenden Krieges wie für die totale Überraschung am Ende fieberhafter diplomatischer Aktivitäten. Es gab eine längere Anlaufzeit, spätestens seit dem Münchener Abkommen im September 1938, und alle Züge eines hastigen, alle diplomatische Routine über den Haufen werfenden Vorgehens. Die Form eines Handstreichs, eines Coup.
„München ist der Ort, an dem die Vorgeschichte des Hitler-Stalin-Paktes spätestens einsetzte“ – so Werner Benecke. Am 28.September 1938 hatten der britische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Ministerpräsident Edouard Daladier, der italienische Diktator Benito Mussolini in München der Forderung Hitlers nachgegeben, dass die Tschechoslowakei das Sudetenland an das Deutsche Reich abtreten und binnen 10 Tagen räumen mußte, um die Sudetenkrise zu beenden. Auch in anderen Gebieten der Tschechoslowakei waren Volksabstimmungen vorgesehen. Am 1.Oktober 1938 begann der deutsche Einmarsch, Polen besetzte am 2.Oktober das Teschener Gebiet, am 2. November übernahm Ungarn Gebiete in der Südslowakei und in der Karpatho-Ukraine. Das Abkommen wurde ausgehandelt und abgeschlossen, ohne dass Vertreter der Tschechoslowakei mit am Tisch sassen und in Abwesenheit der Sowjetunion, die mit der Tschechoslowakei durch ein Abkommen verbunden war. Das Deutsche Reich sollte nun endgültig „saturiert“, die Demütigung von Versailles vergessen und die Kriegsgefahr für immer gebannt sein. „Peace for our time“ – so Neville Chamberlains Botschaft nach seiner Rückkehr aus München. Bekanntlich war sie falsch und eher Wunschdenken als Realpolitik. Hitler dachte nicht an die Einhaltung des Abkommens und besetzte am 15.März 1939 die, wie es hiess, „Rest-Tschechei“ und wandte sich den nächsten Zielen zu: dem Memel-Gebiet, der Freien Stadt Danzig und dem sog. Polnischen Korridor. Doch Hitler zielte auf mehr als nur die Revision der durch Versailles definierten politischen Landkarte, er war nicht der Nationalist, als den man ihn nach Rheinlandbesetzung und Anschluss Österreichs vielleicht noch ansehen konnte, sondern der Mann, der seine Agenda bereits in „Mein Kampf“ dargelegt hatte – die Schaffung eines rassistischen Imperiums, das ganz offen den Kampf gegen den Westen, Kampf für Lebensraum im Osten, den Sturz des Bolschewismus und die Vernichtung des Judentums proklamiert hatte. Jeder konnte es wissen.
Die Westmächte hatten 1938, um des lieben Friedens mit Hitler-Deutschland willen, den Anschluss des Sudentenlandes hingenommen und auf beispiellose Weise einen souveränen europäischen Staat preisgegeben. Die Sowjetunion, die am Aufbau und Erhalt eines Systems kollektiver Sicherheit interessiert war, war in München nicht mit dabei; sie hatte seit 1932 ein Abkommen mit Frankreich zur Waffenhilfe im Falle eines Angriffs. Seit 1935 bestand auch ein Beistandspakt der Sowjetunion mit der Tschechoslowakei, der aber nur dann in Kraft treten sollte, wenn Frankreich seinen Verpflichtungen nachkam und wenn der Durchmarsch durch Polen und Rumänien garantiert sein würde. Die sowjetisch-polnischen Beziehungen waren trotz mannigfaltiger Reibereien seit dem Frieden von Riga, mit dem 1921 der polnisch-sowjetische Krieg beendet und der Grenzverlauf – die Curzon-Linie – festgelegt worden war, mehr oder weniger geregelt.
Die deutsch-polnischen Beziehungen waren seit Versailles von Anfang an von Revisionsforderungen und Stimmungen vergiftet, doch nach 1933 kam es wider aller Erwarten zu einem „gut nachbarlichen Verhältnis“: mit dem Gewaltverzichtabkommen von 1934, der guten Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen, der Wertschätzung für den greisen Pilsudski durch Besuche von Goering und Goebbels in Warschau und die Übersetzung der Pilsudski-Autobiographie. Polen beteiligte sich sogar an der vom Deutschen Reich betriebenen Zerstückelung der CSR, indem es am 2.Oktober 1938 Teschen/Tesin/Cieyzin besetzte, während der deutschen Seite wohl daran lag daran, Polen für den antibolschewistischen Kreuzzug gegen die Sowjetunion zu gewinnen. Aber es gab Grenzen für weiteres Zusammengehen: Polen widersetzte sich den von deutscher Seite Anfang 1939 gestellten Forderungen zum Status von Danzig, zur Regelung des Verkehrs im polnischen Korridor, und zum Beitritt zum Antikomintern-Pakt zwischen Deutschland und Japan, so daß Hitler Anfang April 1939 die Weisung für den „Fall Weiß“, also für militärische Maßnahmen gegen Polen erteilte. Großbritannien setzte dem wenigstens den Abschluss eines Beistandsabkommens am 6.April 1939, Frankreich eine erneuerte Militärkonvention am 19.Mai 1939 entgegen mit Hilfszusagen im Falle eines Angriffs auf Polen.
Die Frage war, wie sich die Sowjetunion im Fall weiterer deutscher Expansion und Aggression und der offensichtlichen Absicht, Polen zu isolieren, verhalten würde. Deutschland wie Russland waren nach Ende des Ersten Weltkrieges, Revolution und Bürgerkrieg international isoliert und fanden sich als „Parias“ in der Zusammenarbeit gegen die Ordnung von Versailles wieder. Das bedeutete: Revision der politischen Landkarte und Beseitigung des wiedererstandenen polnischen Staats. Der Chef der Reichswehr Hans von Seeckt formulierte fast so etwas wie einen revisionistischen Konsens in der frühen Weimarer Republik, als er im September 1922 sagte:
„Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muss verschwinden und wird verschwinden durch eigene, innere Schwäche und durch Russland – mit unserer Hülfe…Polen kann niemals Deutschland irgendwelchen Vorteil bieten, nicht wirtschaftlich, denn es ist entwicklungsfähig, nicht politisch, denn es ist Vasall Frankreichs“. Während der Weimarer Zeit war es zu einer intensiven geheimen militärischen Zusammenarbeit gekommen. Sie fand mit der Machtergreifung der Nazis 1933 vorerst ein Ende. Die rabiat antibolschewistische und Politik des Deutschen Reiches nach 1933 vertiefte erst einmal die Kluft und liess ein Zusammengehen beider Staaten unwahrscheinlich erscheinen. Das fundamentale Interesse des Dritten Reichs, den Rücken frei zu haben für die Aggression gegen Polen und dessen westliche Verbündete, wog indes schwerer als der ideologische und propagandistische Schlagabtausch zwischen „Faschismus“ und „jüdischen Bolschewismus“. Wenn es Hitler gelingen würde, die Sowjetunion im Konflikt mit Polen zu einer neutralen Politik zu bewegen, Polen zu isolieren und so die Gefahr eines Zweifrontenkriegs zu vermeiden, dann wäre ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg des „Dritten Reiches“ zur Vorherrschaft über Mittel- und schliesslich ganz Europa aus dem Weg geräumt. Hitler konnte sich, gedeckt durch die wirtschaftlichen Ressourcen, die mit dem Vertrag ebenfalls gegeben waren – Öl, Getreide, Eisenerz – der Zerschlagung des polnischen Staates zuwenden, umso mehr als er hoffte, dass Grossbritannien und Frankreich sich nicht zu einem wirklichen militärischen Einsatz für Polen bereitfinden würden.
Für die Sowjetunion war im Hebst 1938 nicht klar, wohin die Reise gehen würde: sie war von der Entscheidung ausgeschlossen, es war nicht klar, ob England und Frankreich an der Aufrechterhaltung des Systems kollektiver Sicherheit weiterhin interessiert waren oder lieber ihr Appeasement gegenüber Hitler-Deutschland fortsetzen würden, um das fanatisch antibolschewistische Nazireich gegen die Sowjetunion auszuspielen. Jeder der großen Spieler schien sich mehrere Optionen offen halten zu wollen. Es ist im Schatten der späteren Anti-Hitler-Koalition etwas aus dem Blick geraten, dass die westlichen Mächte seit dem Bürgerkrieg stramm antibolschewistisch eingestellt waren und der Gedanke, die Deutschen als Bollwerk gegen den Kommunismus zu benutzen, nicht aus der Welt war. Aber auch umgekehrt galt. In den Augen der sowjetischen Führung war das Vaterland des Sozialismus von kapitalistischen Mächten eingekreist und belagert, und jeder Widerspruch, jeder Konflikt zwischen den imperialistischen Mächten konnte – zumal die Weltrevolution ins Stocken geraten und auf den „Sozialismus in einem Land“ zurückgeworfen war – für die UdSSR nur ein Gewinn sein. Stalin erklärte auf dem 18.Parteitag im März 1939, dass die Sowjetunion nicht bereit sei, für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen, und stellvertretend für andere Hitler-Deutschland die Stirn zu bieten. Die Westmächte zögerten und liessen die Situation offen, warteten ab, während Stalin sich nicht nur seiner Bedrohung und Gefährdung bewußt war, sondern auch seine zentrale Rolle als „Zünglein an der Waage“ bei der Definition des Kräfteverhältnisses erkannte und handelte – und zwar in parallell und gleichzeitig sowohl mit England und Frankreich als auch mit deutschen Stellen geführten Verhandlungen. Die Westmächte wollten ein Abkommen mit der UdSSR, um den Druck auf Hitler-Deutschland zu erhöhen. Die Sowjetunion forderte freie Hand im Umgang mit den Nachbarstaaten, die Deutschen wollten, dass die Sowjetunion stillhält im Falle des deutschen Angriffs auf Polen.
Es ging dann alles sehr schnell von deutscher wie von sowjetischer Seite, die Gespräche folgten einander in großer Dichte, von Ribbentrops Flug mit der Weltsensation war nur der „Paukenschlag“ als krönender Abschluss. Ein Nervenkrieg, ein Krimi mit offenem Ausgang. Alles sieht aus nach einem groß angelegten Spiel der Diplomatie, der back channel Kontakte, eines kunstvollen Spiels zur Bewältigung, Einhegung eines tödlichen Konfliktes.
Doch in Wahrheit kamen hier mächtigere historische Triebkräfte und Motive zum Tragen, und was auf den ersten Blick so paradox und widernatürlich erscheint, ist in Wahrheit eher als das Naheliegende. Mächtigere Interessen als utopische Ideologien und Projektionen – hier das rassistische Programm der Nazis, dort das marxistisch-leninistische Programm Stalins – waren hier wirksam. Man muss nur bedenken. 1939 waren gerade etwas mehr als zwei Jahrzehnte vergangen, dass das Russländische Reich untergegangen war – in Krieg, Revolution und Bürgerkrieg. Die Gründung der UdSSR 1922 war ja nichts weniger als die Neugründung des Reiches unter neuem – modernerem – Vorzeichen. Es bot sich – wie immer das mit Kriegen und daraus entspringenden Krisen und Zusammenbrüchen der Fall ist – die Chance der Zerstörung der Nachkriegsordnung – Versailles, Frieden von Riga und die ganze neue Staatenwelt zwischen Ostsee und Balkan –, man konnte zuzusehen, sie zu befördern und etwas für sich herauszuschlagen, ohne selber großen Einsatz zu wagen. Im sowjetischen Fall handelt es sich um die Wiedergewinnung von Territorien, die einst dem Russländischen Reich angehört hatten, freilich nicht einfach als Reconquista, nicht bloss als Wiederherstellung eines alten Zustandes, sondern unter Bedingungen der nach 1917 stattgehabten sozialen Umwälzung: also Abschaffung des Privateigentums, Einparteien-Diktatur, Einführung der Planwirtschaft, Ersatz der individuellen Bauernwirtschaften durch die Kollektivbetriebe, forcierte Industrialisierung in präzedenzlosem Umfang und Tempo, Beseitigung aller Barrieren, die einem radikalen Durchherrschen von oben nach unten entgegenstanden. Den wahren Sinn des Paktes hat Wjatcheslaw Molotow, der zweite Mann im Staat, der Unterzeichner von Abertausenden von Todesurteilen, und wohl einer der wichtigsten Diplomaten des 20. Jahrhunderts, offen und mit Stolz ausgesprochen. „Es war meine Aufgabe als Außenminister, die Grenzen unseres Vaterlandes zu vergrößern Und es sieht danach aus, als hätte Stalin und ich diese Aufgabe recht gut erfüllt“. Das Bündnis mit Hitler eröffnete die Möglichkeiten und ließ ihm freie Hand, im Osten Europas aufzuräumen: das verhasste Polen, den „Bastard von Versailles“ (Molotow) zu beseitigen, die baltischen Provinzen und Bessarabien zurückzuholen, und sogar Territorien zu annektieren, die noch nie zum Russischen Reich gehört hatten, wohl aber von ihrer ethnischen Zusammensetzung her beansprucht wurden – die Nord-Bukowina und Ost-Galizien als bevölkerungsmäßig mehrheitlich ukrainische Gebiete.
Im Eilverfahren wurde nach der sowejtischen Annexion die sowjetische Form der Modernisierung in den besetzten Gebieten nachgeholt: die Säuberung von klassenfremden Elementen und Klassenfeinden, die Beseitigung der Parteienlandschaft in den zwar autoritären, aber doch noch pluralen Staaten der Zwischenkriegszeit, die Gleichschaltung der Öffentlichkeit, die Etablierung der Geheimpolizei und aller Instrumente des ideologischen und physischen Terrors, Bevölkerungsverschiebungen im grossen Stil, (die sich nach der 2. Besetzung nach der Rückeroberung am Ende des 2. Weltkrieges noch einmal wiederholen sollten), aber auch die Eröffnung von Kanälen sozialen Aufstiegs durch Schulen und Industrialisierung in den weithin noch agrarischen Regionen. Die Sowjetisierung liess sich hier nicht Zeit, sondern kam über Nacht, im Expressverfahren und in anderen Formen und Formeln von Legitimation als denen der Nazis: dass es Wahlprozeduren gab, dass die „Stimme des Volkes“ hörbar wurde, dass die überholten Verhältnisse zerschlagen werden und ein bestimmter Typus von „neuen Menschen“ entstehen sollte. Es ist der Beginn einer Sowjetisierung, die durch die ungeheuren Zerstörungen, die die Naziherrschaft bis zum Ende des Krieges mit sich gebracht hatte, verschärft wurde. Die Nazis hatten mit der Ermordung der Juden die klassischen urbanen Milieus zerstört, ein Vakuum hinterlassen, in das dann die neuen sowjetischen Strukturen hinein stießen, hineingepflanzt wurden. Man kann die Sowjetisierung des östlichen Europa ohne die ungeheure Zerstörungsarbeit der Deutschen nicht verstehen. Viele grosse Städte – Wilna, Kaunas, Minsk und andere wurden erst nach dem Krieg in Zuge der Industrialisierung und des Massenzuzugs vom Lande „nationalisiert“, also litauisiert, bjelorussifiziert, ukrainisiert usf. Es handelt sich bei der Reintegration der Gebiete also gerade nicht um eine reaktionäre Wiederherstellung des status quo ante – des Imperiums -, sondern um die Integration in das Imperium sowjetischen Typs mit allem, was dazugehört: Deportationen, Massenmorde, die Entfesselung von „Bürgerkriegen im Krieg“ (Alfred Rieber), also Aufstachelung der Ukrainer gegen die Polen, der Ukrainer und Polen gegen die Juden, die soziale Nivellierung und politische Gleichschaltung – mit einem Wort: all dies ist nicht boss „Stillhalten um Zeit zu gewinnen“, nicht bloss Nachgeben gegenüber einem Aggressor, nämlich Hitler-Deutschland, sondern es handelt sich um ein eigenes, imperiales, imperialistisches, wenn man so will: sozial-imperialistisches Programm, das eben nicht bloss auf die Wiederherstellung des Zarenreiches abzielt, sondern auf die Expansion des Sowjetimperiums. Hier liegt ein fundamentaler Unterschied zur Appeasement-Politik der Westmächte der Jahre 1938/1939 vor.
Die Frage, die sich hier stellt, ist, warum sich, wenn es sich nicht nur um das Ziel eines Zeitgewinns gehandelt hat, wie es in einer apologetischen Interpretation der sowjetischen Politik heißt, die Sowjetunion Stalins so verhalten hat. Sie hat bis zum Ende, also bis um Überfall am 22. Juni 1941 an den Vereinbarungen festgehalten und mehr noch. Am 10.November 1940 traf Molotow zum Gegenbesuch in Berlin ein, um weitere Formen und Projekte der Zusammenarbeit auszuloten. Ein wirkliches Ereignis: die sowjetische Delegation am Anhalter Bahnhof, militärisches Zeremoniell, Abspielen der Nationalhymne – der Internationale -, Gespräche und feierliche Empfänge in der Reichskanzlei, Bankett im Hotel Kaiserhof, Unterbringung in Schloss Bellevue. Hitler wollte Molotow in Richtung Indien gegen das Britische Empire locken, Hitler deutete Konzessionen in der Dardanellen-Frage und Donaumündung an. Aber es kam bei den Gesprächen, die von einem Fliegeralarm der Royal Air Force unterbrochen wurde, nichts heraus. Die deutsch-sowjetisch/russische Freundschaft feierte fröhliche Urständ: In Berufung auf Bismarck hatte Ribbentrop schon auf dem Festbankett im Kreml Ende September 1939 gesagt: „Deutschland und Russland ist es früher immer schlecht gegangen, wenn sie Feinde waren, aber gut, wenn sie Freunde waren… Der Führer und Stalin haben sich für die Freundschaft entschieden“. Für Graf von der Schulenburg, Botschafter in Moskau, 1944 von Freislers Volksgerichtshof verurteilt und in Plötzensee hingerichtet, war, wie er glaubte, mit dem Pakt etwas in Erfüllung gegangen, wofür er ein ganzes Leben lang gearbeitet hatte. Auch die Intellektuellen der konservativen Revolution und des nationalen Sozialismus empfanden eine innige Sympathie für den deutsch-sowjetischen Schulterschluss.

Das ganze Jahr 1940 über aber wurden die Lieferungen von Erdöl, Futtergetreide, Baumwolle, Chromerzen aus der Sowjetunion vertragsmäßig erfüllt – immerhin 52% des sowjetischen Gesamtexports, geliefert an eine Macht, die Schlag auf Schlag, Blitzkrieg auf Blitzkrieg dabei war, Europa zu unterwerfen: am 9.April 1940 Besetzung von Norwegen und Dänemark; am 10.Mai 1940 Überfall auf Belgien, Luxemburg und die Niederlande, am 22.Juni 1940 die Kapitulation Frankreichs in Compiègne. Während man der Entfaltung des Krieges im Westen zusah, konnte Stalin im Juni 1940 nach dem Sieg am Chalchin Gol im Fernen Osten ein Neutralitätsabkommen mit Japan unterzeichnen und so die Gefahr eines Zweifrontenkriegs bannen. Auch anderen Dinge sind merkwürdig: Unterdessen wurde die innersowjetische Öffentlichkeit auf Freundschaft mit den Deutschen gestimmt. Die antifaschistische Propaganda wird weitgehend eingestellt. Im Bolschoi gab es – inszeniert von dem genialen Eisenstein – Richard Wagners „Walküre“ – in Berlin dafür „Iwan Susanin“ in der Lindenoper. Im Gorki-Park waren Agitatoren unterwegs, um dem Volk den Sinn der neuen Politik zu erklären, warum die Deutschen gute Verbündete sind und die Engländer imperialistische Kriegstreiber. In Kinos wurde die Verfilmung eines Feuchtwanger-Romans abgesetzt, ebenso Eisensteins – „deutschen-kritisches“ Meisterwerk „Alexander Newski“. In Bibliotheken lagen Nazizeitungen aus, die Kommunisten überboten sich in Lobhudeleien auf die geniale Aussenpolitik Stalins. So etwa ein Gedicht von Johannes R.Becher „August 1939“:
„An Stalin. Du schützt mit deiner starken Hand den Garten der Sowjetunion. Und jedes Unkraut reißt Du aus Du, Mutter Russlands größter Sohn, nimm diesen Strauss. Nimm diesen Strauss mit Akelei zum Zeichen für das Friedensband, das fest sich spannt zur Reichskanzlei“. Komintern-Funktionäre wie Walter Ulbricht und Herbert Wehner lobten den Kampf Deutschlands gegen den aggressiven Imperialismus der Briten, und sogar von dem in Buchenwald gefangen gehaltenen Ernst Thälmann war zu hören, dass der Pakt der Solidarität von sowjetischem und deutschem Proletariat diene. Es waren die Parteien der Komintern, die vom Pakt am schwersten getroffen wurden. Er ist die Stunde eines moralischen Zusammenbruch und die Geburtsstunde der Generation der sog. Renegaten und Dissidenten, der Stephen Spender, Raymond Aaron, Arthur Koestler und Hanna Arendt, die ihre Schlussfolgerungen für den Rest des 20. Jahrhunderts formulierten: Der Gott, der keiner war; Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.
Noch gravierender als das propagandistische Aufgebot Moskaus war wohl die rätselhafte Missachtung aller Hinweise darauf, dass Hitler längst den Weg zum Angriff auf die Sowjetunion beschritten hatte. Mit der Weisung vom 18.Dezember 1940 waren die Vorbereitungen für den „Fall Barbarossa“ eingeleitet worden, die bis zum 16.Mai 1941 abgeschlossen sein sollten. Geschichtsnotorisch und rätselhaft ist die Zurückweisung aller Informationen und Hinweise auf die militärischen Vorbereitungen, auch im grenznahen Bereich. Darunter die qualifiziertesten Kräfte der sowjetischen Auslandsaufklärung und von Politikern, die den Kampf gegen Hitler von Anfang an auf ihre Fahnen geschrieben hatten – wie etwa Winston Churchill. All diese Meldungen wurden als Desinformation und schlimmer: als Provokationen, die die Sowjetunion in die Falle locken sollten, abgewiesen, ihre Überbringer bestraft.
Es gibt um dieses Verhalten eine ausführliche, nicht abreißende Diskussion, die von der Psychopathologie des Diktators, von Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus durch Stalin, von den Folgen der Vernichtung der militärischen Elite in den Jahren der Säuberungen handeln oder vom Zurückweichen, um Zeit zugewinnen für die militärische Aufrüstung, mit der man im Rückstand war. Diese Diskussion wird vor allem durch das panikähnliche Verhalten des Diktators in den ersten Wochen nach dem deutschen Überfall und den blitzartigen Vorstoss der Wehrmacht in den ersten Monaten bekräftigt. Lag hier Versagen, Verzweiflung oder gar die List des genialen Stalin vor, den Feind ins Land hinein zu locken, um ihm dann den tödlichen Schlag zu verpassen, oder kam alles so, weil Hitlers Wehrmacht dem Angriffskrieg, den Stalin selbst vorbereitet haben soll, zuvor gekommen war?
Ich kann hier nichts Kompetentes oder gar Neues vortragen. Was mir nur auffällt, , ist die fast ausschließliche Fixierung auf das diplomatische und militärische Geschehen in jenen Jahre, so als hätte die sowjetische Außenpolitik nichts mit der inneren Entwicklung der Sowjetunion in jenen Jahren zu tun. Ist es nicht so, dass die äussere Politik wenigsten mitbedingt ist durch die inneren Verhältnisse? Was waren eigentlich die innersowjetischen Triebkräfte und Spannungen, die diese Politik befördert, hervorgebracht, ja notwendig gemacht haben? Man hat oft den Eindruck, dass wir es schlicht mit der Raffinesse oder der Beschränktheit eines gewieften Stalin und seines Teams zu tun haben. Ich habe keine eigenen Forschungen zu dieser Frage vorzuweisen, finde aber, dass es ein eklatanter Mangel ist, wenn auf die Ableitung von äußerer Politik aus den inneren Verhältnissen verzichtet wird. Eine der ganz wenigen Ausnahmen, die mir bekannt sind, ist eine Arbeit von Wladislaw Hedeler, erschienen unter dem Titel: „1940 – Stalins glückliches Jahr“, erschienen vor fast 20 Jahren. Und tatsächlich: es ist ein Jahr, in dem nicht die Gewalt beendet, wohl aber die Welle des Terrors der Jeschowschtschina, also der Jahre 1937/38 mit ihren Schauprozessen, Verhaftungswellen, Folterungen und Massenexekutionen abgeebbt, vorbei ist; es ist das Jahr, in dem die „fünften Kolonnen“ im Inneren liquidiert sind und Trotzki, der master mind aller antisowjetischen Verschwörungen am 20.August 1940 im Exil in Mexico, mit Beilhieben erledigt worden ist. Es ist das Jahr, in dem die Sowjetunion in den Grenzen des alten Imperiums und darüber hinaus wiederhergestellt ist, und die neu erworbenen Territorien nach dem Ebenbild des Vaterlandes der Werktätigen umgestaltet wird, auch wenn es nicht gelungen ist, ganz Finnland in die Knie zu zwingen und nur einen Teil davon im Winterkrieg zu annektieren; es ist ein Jahr, in dem die Sowjetunion, über Jahrzehnte Paria und international isoliert, eine zentrale, ja ausschlaggebende Stellung im internationalen System erobert hat, weil sie selbst über Optionen verfügt und ihr ganzes Gewicht in die Waagschale werfen kann. Die Sowjetunion befindet sich nach dem Stress des 1. und 2. Fünfjahrplans, mitten im 3.Fünfjahrplan. Die Arrondierung des Imperiums war ein grosser Gewinn, Fortschritt durch Expansion statt Intensivierung des inneren Landesausbaus, für den Reformen notwendig gewesen wären, zu denen das Regime aber nicht fähig war oder nicht mehr die Zeit bekam (die Reformdiskussion ging erst Ende der 1940er Jahre wieder los).
Es gibt genügend Aussagen der sowjetischen Führung, der „Generation Stalin“, die etwas über deren Denk- und Erwartungshorizont aussagen. Sie gehören der Generation an, die den Ersten Weltkrieg und die Revolution als prägendes Ereignis mitgemacht hatten und für die der Fortgang der Revolution mit der Krise, der Rivalität der imperialistischen Mächte verbunden war, einem Ringen, von dessen Ausgang letztlich auch das Überleben von Stalins „Sozialismus in einem Land“ abhing. Der Krieg war nicht nur ein Verhängnis, sondern eine Chance. In den Kriegen rieb sich das imperialistische Lager selber aufsprengte den imperialistischen Gewaltzusammenhang und eröffneten Schneisen, durch die sich die Revolution Bahn brechen konnte. Die Sowjetunion mußte nur die Rivalität der Grossmächte zu nutzen verstehen. Das war eine Chance, die Zeit arbeitete für die Schwächung es imperialistischen Lagers, für die Ausbreitung des Sozialismus – über das eine Land hinaus. Das alles steht in der Bibel der stalinistischen Sowjetunion, dem „Kurzen Lehrgang der KPR“, erschienen 1938. Wie anders kann man die Vorwürfe an die Adresse Englands als Kriegstreiber verstehen! Wie anders kann man Stalins „Kastanienrede“ verstehen, dieses Plädoyer für Sich-Heraushalten und Zusehen, was passiert, wenn zwei sich streiten! Wie anders kann man die wirtschaftliche Zusammenarbeit sehen, die Idee des Leninschen Projekts einer deutsch-sowjetischen Modernisierungspartnerschaft! Die Idee von einem unangreifbaren euroasiatischen Kontinentalblock, der es mit dem maritimen Block aufnehmen konnte, lag schon lange in der Luft – von den geopolitischen Projektionen Karl Radeks bis zu Karl Haushofer und dessen Schüler Rudolf Hess. Ja, 1940, in dem auch der finnische Winterkrieg und Katyn spielten, war Stalins glückliches Jahr – das Jahr nach dem Pakt und das Jahr, bevor die nationalsozialistische Apokalypse auch über die Sowjetunion hereinbrach.
Aber das sind nur Fragen und Anregungen, die ich hier nicht weiter ausführen kann.

Drittens: Was sind die Langzeitfolgen dieser Doppelherrschaft und Doppelerfahrung? Gegen die Geschichtsschreibung der Sieger, die der Besiegten zur Sprache bringen.
Bestimmte historische Erfahrungen haben sich, wie man das nennt, „ins kollektive Gedächtnis“ eingebrannt. Die Erfahrung mit dem Hitler-Stalin-Pakt gehört zu dieser Art von Ereignissen. Ihre Wirkung verschwindet erst, wenn sich die Konstellation aufgelöst hat, von der die Bedrohung ausgegangen ist. Um deren Erfahrung zur Sprache zu bringen, reicht die Sprache der Nachgeborenen, die von all dem verschont geblieben sind wohl nicht aus. Aber sie haben eine Stimme, ihre eigene Stimme, beglaubigt durch eigenes Erleben und Leiden. Darunter sind unendlich viele Namenlose, aber auch Namen von Autoren und Werken, in denen diese Erfahrung aufbewahrt ist. Wir haben Wassili Grossman, einen Tolstoi des 20. Jahrhunderts, der in seinem Werk den Weg aus dem jüdischen Berditschew nach Stalingrad und von dort den Weg über die entvölkerte Ukraine und Treblinka nach Berlin zurücklegt. Wir haben Alexander Wats Odyssee durch das 20. Jahrhundert – von Warschau über Lemberg nach Kasachstan, und aus Warschau nach Paris. Wir haben das Zeugnis der Margarete Buber-Neumann, die ihre Fahrt aus Stalins Lager in Kasachstan ins deutsche KZ in Ravensbrück im Jahre 1940, die quer durch das deutsch-sowjetisch besetzte Polen führte, beschrieben.
Der Hitler-Stalin-Pakt, angeblich ein Sieg der Realpolitik, ist eines der wichtigsten und schändlichsten Abkommen des 20. Jahrhunderts. Er leitete ein, was in unvorstellbare Gewalt bis hin zum Völkermord mündete. Der Hitler-Stalin-Pakt hat den von Hitler geplanten Krieg, der mit dem Angriff auf Polen begann, möglich gemacht. Was mit dem Münchner Abkommen 1938 begann – der Beschwichtigungspolitik der Westmächte – setzte sich fort in einer deutsch-sowjetischen Absprache, die dem deutschen Aggressor nicht nur freie Hand liess, sondern die sowjetische Seite zu einem Partner bei der vierten Teilung Polens und der Aufteilung Ostmitteleuropas in zwei Interessensphären machte. Die Politik der Beschwichtigung und der Zusammenarbeit hat den bedrohten Frieden nicht gerettet, sondern die Völker Europas Hitler und dann auch Stalin ausgeliefert. Die Opfer, die am Ende auch die Völker der Sowjetunion für die Politik Stalins in dem von Hitler begonnenen Krieg gegen die Sowjetunion zu zahlen hatten, waren unermesslich hoch. Den Deutschen, die den Krieg nach Osten getragen haben, steht es wohl an, die Erfahrungen der Ostmitteleuropäer, die die ersten Opfer der Aggression geworden sind, anzuerkennen und wenigstens zur Kenntnis zu nehmen. Diese haben mehr als einmal die Erfahrung gemacht, dass Politik über ihre Köpfe hinweg nichts Gutes bringt, dass sich Aggressoren durch gutes Zureden und Entgegenkommen nicht beschwichtigen lassen. Mut und Courage an den Tag zu legen, wenn andere bedroht sind, ist das Wenigste, was wir den Opfern des Paktes von 1939 schulden.

Karl Schlögel am 23. August 2019

zurückliegende Gedenkveranstaltungen:

Gedenken an den 18. April 1946 am 17. April 2019

Am 18. April 1946 wurden drei 16-jährige Schüler des Einstein-Gymnasiums in Potsdam erschossen. Der vierte von ihnen (15 Jahre jung) wurde zu 20 Jahren Arbeitslager „begnadigt“: Hermann Schlüter. Wegen seiner miserablen Gesundheit wurde er aber nicht ins sowjetische GULAG deportiert, sondern nach Torgau und Bautzen. ¬In hohem Alter ist unser Zeitzeuge Hermann Schlüter 2018 in Potsdam verstorben. Den vier Schülern und allen unschuldig Inhaftierten – oder Menschen mit geringer individueller Schuld, die den gnadenlosen Strafen des damals stalinistischen Systems zum Opfer gefallen sind – gilt unser Gedenken. Wegen des Gründonnerstags am 18. April diesen Jahres findet unser Gedenken schon am Vorabend statt.
Mittwoch, 17. April 2019: ab 16.30 – Führung durchs Haus (mit Dr. Richard Buchner)
Um 17.30 Uhr – Zeitzeugen-Gespräch mit Margot Jann (Frauengefängnis Hoheneck), Helga oder Helene Sereda (Workutá), Gerd Taege (AG Lager Sachsenhausen 1945-50), und Margot Bonk (der Schwester eines der getöteten Schüler)
18.30 Uhr – Kranzniederlegung durch Repräsentanten von Politik und Gesellschaft im Land Brandenburg und durch befreundete Verbände.
Gedenken an Horst Schüler, den langjährigen Vorsitzenden der Lagergemeinschaft Workutá und der Union der Opferverbände U O K G (Bundesverdienstkreuz)
Alle demokratischen Parteien im Landtag und in der Stadt Potsdam sind herzlich eingeladen. Wie alljährlich sollen Kränze oder Blumen an den beiden Gedenktafeln an der Mauer des Gefängnisses abgelegt werden.
Horst Schüler, geboren 1924 in Potsdam, ist der Sohn eines Sozialdemokraten, der in Potsdam von den Nazis verhaftet und im KZ Sachsenhausen umgebracht worden ist. Als Sohn eines ermordeten Antifaschisten hatte der junge Horst Schüler den Mut zur Kritik an manchen Missständen im SED-Staat. Verhaftet in Potsdam 1951, verurteilt wegen „Spionage“ zu 25 Jahren GULAG – Heimkehr aus Workutá 1955. Horst Schüler war auch unserer Gedenkstätte in Potsdam sehr freundschaftlich verbunden. Überaus engagiert und aktiv bis zuletzt, ist er nun am 27. März 2019 in hohem Alter verstorben. Wir werden ihn niemals vergessen.
Lernort für Demokratie“ – so wurde unsere Gedenkstätte von einer Potsdamer Zeitung benannt. An diesem Tag soll vor allem der Opfer des stalinistischen Terrors gedacht werden – Menschen von höchst unterschiedlichem Alter, Männer und auch Frauen, zudem auch Jugendliche. – Sie alle gerieten in die Hände sowjetischer Geheimdienste infolge des verbrecherischen Krieges und der Shoah – doch ihre individuelle Schuld wurde niemals rechtsstaatlich überprüft. Willkür-Urteile und grausame Strafen waren die Realität in diesem Hause.
Die neue Ergänzung der Dauerausstellung zur >Zeit danach: Stasihaft oder GULAG< ist gleichfalls sehenswert.
Mit herzlichem Dank an alle, die an unserem Gedenken teilnehmen wollen,
für den Vorstand des Gedenkstätten-Vereins
Dr. Richard Buchner

Europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalismus am 23. August 2018

Grußworte von Gisela Rüdiger und Dr. Maria Nooke

Festvortrag: Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst a.D., Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken 1997 bis 2009

Musik: Varoujan Simonian, Violine

Eine Veranstaltung des Gedenkstättenvereins in Kooperation mit der „Fördergemeinschaft Lindenstraße 54“

V.i.S.d.P. Gisela Rüdiger giselapotsdam@tele2.de Tel. 0331 2700454

DIE ALLZEIT BEDROHTE FREIHEIT - Der Festvortrag von Hans Joachim Meyer -

Der Gedenktag, den wir heute begehen, gehört nicht zu jenen, die das gesellschaftliche Leben prägen. Würden wir auf die Straßen gehen und unsere Mitbürger fragen, was heute für ein Gedenktag ist, so erhielten wir kaum zutreffende Antworten. Malte Lehming hat vor zwei Jahren im Tagesspiegel sogar den Verdacht geäußert, dies sei ein Gedenktag, der in der Bundesrepublik verschwiegen würde. Dabei ist der 23. August keineswegs ein unbedeutendes und auch kein unbekanntes Datum unserer neuesten Geschichte. Ganz im Gegenteil. Mit ihm verbindet sich sogar ein Bild, das – vordergründig gesagt – Geschichte gemacht hat. Denn es zeigt den sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow und den nationalsozialistischen deutschen Außenminister Joachim v. Ribbentrop, wie sie am 23. August 1939 in Anwesenheit Josef Stalins den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichnen. Darauf folgten nur wenige Tage später der Überfall Nazideutschlands auf Polen und damit der Beginn des zweiten Weltkrieges. Eigentlich also ein Tag, der alles hat, um sich in das Gedächtnis der Menschen gleichsam einzugraben.

Auch für die Deutschen aus der DDR müsste der heutige Gedenktag für unsere Erinnerung wichtig sein. Denn im revolutionären Herbst von 1989 schienen uns, die wir Nationalsozialismus und Stalinismus erlebt hatten, beide Herrschaftssysteme gleichermaßen überwundene Gefahren. Das war gewiss naiv, denn bald mussten wir erkennen, dass im Osten Deutschlands, trotz der antifaschistischen Selbstberühmung der DDR, nazistisches und rassistisches Gedankengut keineswegs verschwunden war. Eine neue Erfahrung waren für die meisten von uns linksextremistische Tendenzen, wie wir sie bald unter der Losung „Nie wieder Deutschland“ beobachten konnten. Dass der Ruf nach Einheit Revanchismus wäre, hatten wir schon vorher aus der Bundesrepublik vernehmen können. Wir mussten erst noch lernen, dass die Wirklichkeit einer freiheitlichen Demokratie vielstimmig und nicht selten dissonant ist. Vor allem mussten wir begreifen, dass Freiheit immer zugleich Chance und Risiko bedeutet. Und dass es einen unauflöslichen Zusammenhang gibt zwischen den Chancen der Freiheit und den materiellen Bedingungen unseres Lebens, die uns damals unter den Händen zu zerrinnen begannen. Dennoch war bei uns die Einsicht der Mehrheit richtig, dass der Beitritt zur Bundesrepublik unsere einzige realistische Chance war.

Unbestreitbar haben wir seitdem dazu gelernt. Wichtig ist dabei die geschichtliche Einsicht, dass die Freiheit nicht nur von einer Seite bedroht ist. An die doppelte Bedrohung der Freiheit erinnern uns heute die Opfer des Stalinismus und die Opfer des Nationalsozialismus. Das Wesentliche beim Gedenken an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus besteht dabei nicht darin, dass man diese beiden Bedrohungen der Freiheit gleichsetzt und auf diese Weise die Verbrechen des Nationalsozialismus relativieren könnte. Die Frage ist vielmehr: Wodurch gefährdeten Stalinismus und Nationalsozialismus die Freiheit und warum waren beide dem Wesen der Freiheit diametral entgegengesetzt? Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir diese beiden geschichtlichen Erfahrungen in ihrer Unterschiedlichkeit näher betrachten. Was war also der jeweilige und zweifellos radikal unterschiedliche Anspruch des Stalinismus einerseits und des Nationalsozialismus andererseits? So zu fragen bedeutet nicht zu behaupten, der Charakter der beiden einander feindlichen Systeme und ihre ideellen Motive seien identisch. Wahr bleibt aber, dass beide Systeme dem menschlichen Freiheitsverlangen entgegensetzt waren.

Wer sich von den Deutschen aus der DDR seiner ersten Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Diskurs erinnert, weiß, dass dort die Gleichstellung von Stalinismus und Nationalsozialismus als Feinde der Freiheit eher kritisch hinterfragt wurde. Der wesentliche Grund dafür scheint mir darin zu bestehen, wie diese beiden Systeme selbst ihren Platz in der Geschichte sahen – als Inanspruchnahme des Fortschritts oder als Abgrenzung vom Fortschritt.

Das Wort „Stalinismus“ war bekanntlich keine offizielle Bezeichnung des, wie er sich in seiner Endphase selbst nannte, real existierenden Sozialismus. Das Wort war vielmehr eine Anklage Stalins und dessen persönlicher Diktatur. Denn diese war mit brutalen Mitteln durchgesetzt worden und hatte Millionen von Menschen Elend und Tod gebracht. Von der persönlicher Freiheit der Menschen hielt Stalins Herrschaft nichts. Trotzdem stößt der Begriff des Stalinismus bis heute auf Ablehnung. Vor allem natürlich bei jenen, welche in der unbeschränkten persönlichen Diktatur Stalins nur einen – gewiss kritikwürdigen – Personenkult sehen wollen. Für diese bedeutete und bedeutet das Wort „Stalinismus“ nur eine Verleumdung der sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion.

Andere halten den Begriff „Stalinismus“ für irreführend, weil diese Art von freiheitsfeindlicher Herrschaft ja schon durch Lenin begonnen worden war. Also muss man doch wohl fragen: War die Freiheitsfeindlichkeit dieser Diktatur nur die Folge der Psyche Stalins oder entsprach sie dem Wesen dieser Art von Sozialismus? Wer einmal Lenins Schrift „Staat und Revolution“ gelesen hat – und hier sitzen heute gewiss auch solche, die, wie ich, das tun mussten – dem kann nicht entgangen sein: Lenin wollte zwar den Staat abschaffen, genauer gesagt, den Staat als Unterdrückungsapparat im Dienst der ausbeutenden Minderheit, aber was sollte an dessen Stelle treten: Lenin wollte die Diktatur des Proletariats, vorausgesetzt, das Proletariat wird von der einen wahrhaft revolutionären Partei geführt und diese Partei steht ihrerseits wie eine Armee unter einem Kommando. Und wie eine solche Herrschaft zu praktizieren ist, darüber hat Lenin nach 1917 keinen Zweifel gelassen – in seinen politischen Entscheidungen wie in seinen Äußerungen. In Lenins Denken und Handeln war geistige und politische Freiheit nur ein bürgerliches Hirngespinst! Diesem Lenin an der Macht hat die marxistische Revolutionärin Rosa Luxemburg bekanntlich ihr klarsichtiges Urteil entgegengesetzt: Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.

Das ist und bleibt auch für uns eine wichtige Mahnung. Denn worauf berief sich der Sozialismus in der Sowjetunion wie der in der DDR und in den anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs? Dieses Herrschaftssystem nahm in Anspruch, die große Tradition der demokratischen Freiheit und der sozialistischen Arbeiterbewegung fortzusetzen und zu vollenden. Die damals Herrschenden behaupteten ja allen Ernstes: Ihr Sozialismus sei die verwirklichte Freiheit. Und sie beriefen sich dabei auf Hegels Wort, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit. Woraus in der DDR die traurige Einsicht wurde, dass man frei ist, wenn man das tun will, was man ohnehin tun muss. Allerdings sollen wir uns auch fragen: Steckt nicht in uns allen die Versuchung, im politischen Gegner wie aber auch in jedem Andersdenkenden jemanden zu sehen, der unerbittlich zu bekämpfen ist?

Zu Recht sehen wir in den demokratischen Revolutionen im Europa des 19. Jahrhunderts unsere politischen Vorfahren. Näher betrachtet ist der Siegeszug der Demokratie in der westlichen Welt jedoch eine äußerst widersprüchliche Geschichte. Was wir z.B. meist vergessen, ist die Tatsache, dass die Jakobiner unter Robespierre nach 1792 jeden, der im Konvent anders votierte als sie, aufs Schafott schickten. Und die katholischen Priester, die den Eid auf den neuen Staat verweigerten, ohnehin. Wer davon überzeugt ist, den wahren Volkswillen zu vertreten oder wer meint zu wissen, was der wahre Volkswille sein müsste, der kann durchaus versucht sein, erst zur Macht zu greifen und dann die anderen zu dem zu erziehen, was die Macht für richtig hält. Jean Jacques Rousseau, einer der großen Vordenker der Französischen Revolution von 1789 und unserer westlichen Demokratie träumte vom allgemeinen Volkswillen. Darum setzte er auf kleine Gemeinschaften, weil der allgemeine Volkswille sich dort besser herausbilden ließe. Wer von uns würde sich ernsthaft wünschen, in so einer kleinen Gemeinschaft leben zu wollen? Sie mag überschaubar sein, doch neigt sie nicht zur geistigen Enge und zur Dominanz weniger, die das Sagen haben und die öffentliche Meinung bestimmen? Und gibt es überhaupt so etwas wie den allgemeinen Volkswillen?

Nun mag man mir entgegenhalten: Solche Ideen waren die unvermeidlichen Geburtswehen der Geschichte. Heute wissen wir, dass der Begriff Volk die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger umfasst, dass diese sich aber in ihren Positionen und Interessen unterscheiden. Darum müssen sie sich in streitigen Debatten zu einem freiheitlichen Grundkonsens und zu Mehrheitsentscheidungen durchringen. Die Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein homogenes Volk mit einer einheitlichen Meinung, sollte also hinter uns liegen. Was wir ständig erleben, ist ein Volk in der permanenten Debatte.

Auf der einen Seite gibt es jene, für die Geschichte Fortschritt zu Höherem, Fortentwicklung zu Besserem und die Eröffnung neuer Möglichkeiten bedeutet. Zweifellos ist und bleibt eine solche Überzeugung eine gestaltende Kraft, ohne die wir die Zukunft nicht gewinnen können. Auf der anderen Seite gibt es durchaus zu Recht jene, welche die Werte der Vergangenheit hoch halten, daher dem ständigen Wandel eher skeptisch gegenüberstehen und die Spur der Zerstörung nicht übersehen, welcher der Fortschritt hinterlässt. Und dazwischen gibt es die ihrerseits wieder vielgestaltige Mitte, welcher eine notwendige Vermittlungsaufgabe zukommt. So weit, so gut. Aber dass solche, für sich genommen verständliche Einstellungen allemal vor geistiger Verhärtung schützen, vor Intoleranz und ideologischer Borniertheit, vor bösartiger Gewalt gegen Andersdenkende – das zu meinen, halte ich für eine Illusion.

Als wir Deutschen aus der DDR mit der Vereinigung die alte Bundesrepublik näher kennen lernten, erlebten wir ein Land im ständigen und nicht selten spannungsvollen Diskurs, in dem wir uns bewähren mussten. Die Bundesrepublik ist bis heute in einem nicht geringen Maße geprägt vom Marsch der bundesdeutschen Achtundsechziger durch die Institutionen, Redaktionen und Apparate. Es war der Pendelschlag der Geschichte gegen die ersten Jahrzehnte der alten Bundesrepublik, deren unerwartete Erfolge eher eine konservative Grundstimmung der Gesellschaft bewirkt und unterstützt hatten. Die Nazizeit betrachtete man als einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte, den man überwunden habe und vergessen könne. Eine solche Haltung konnte und durfte keinen Bestand haben, denn sie gefährdete die Zukunft. Zugleich war natürlich auch die Bundesrepublik von 1989/90 eine widersprüchliche Größe. Und so erlebten wir auch Konservative, welche meinten, der Untergang der DDR gäbe ihnen im vereinigten Deutschland die Chance, gesellschaftspolitische Niederlagen in der alten Bundesrepublik nun wieder wett zu machen. Überwiegend herrschte jedoch in der öffentlichen Meinung ein linker Ton. Und wer von der linken Leitkultur abwich, also z.B. Nation oder Heimat oder deutsche Kultur nicht für überholte oder zumindest für kontaminierte Begriffe hielt, der musste damit rechnen, attackiert zu werden. Doch streitiger Diskurs ist der Normalfall in einer freiheitlichen Gesellschaft. Man muss seinen Standpunkt mit Anstand vertreten, man muss sich auch wehren können oder man schweigt. Ist es nicht so, dass im Osten viele von denen, die jetzt herumbrüllen und behaupten, sie seien das Volk, vorher lange geschwiegen haben?

Nun ist die Vorherrschaft bestimmter Meinungen in einer freiheitlichen Gesellschaft durchaus normal, denn ein Equilibrium, ein Gleichgewicht der Positionen gibt es nur selten in der Geschichte. Und ganz generell gilt: Wer eine freiheitliche Gesellschaft will, der muss lernen zu formulieren und zu argumentieren. Und sich nicht hinter der Behauptung verstecken, es gebe eine Systempresse und eine Meinungsdiktatur. So redeten schon die Feinde der Weimarer Republik. Was ich im vereinigten Deutschland nicht für normal hielt, war jedoch die absolute Dominanz der Losung „Gegen Rechts“. Also nicht Kampf gegen Rechtsextremismus oder, was ich für richtiger gehalten hätte, gegen Rechts- und Linksextremismus, sondern „Gegen Rechts“. In Wahrheit wird unsere freiheitliche Ordnung aber auch von Linksextremisten bedroht. Allenfalls ist „Gegen Rechts“ als Abkürzung akzeptabel. Nimmt man die Losung „Gegen Rechts“ im Wortsinn, so leugnet sie die Pluralität der freiheitlichen Gesellschaft. Und macht Linksextremisten zu einzig wahren Demokraten. Zugleich schließt sie Menschen aus dem öffentlichen Diskurs aus und treibt sie Rechtsradikalen und Rechtsextremisten in die Arme. Und diese sind heute in Deutschland wieder eine reale Gefahr. Denn wer wie in der Weimarer Republik gegen „das System“ hetzt, bedroht unsere freiheitliche Demokratie.

Am heutigen Tag gedenken wir der Opfer des Stalinismus und der Opfer des Nationalsozialismus. Also ist es notwendig, auch über das Wort „Nationalsozialismus“ nachzudenken. Bei Licht besehen war dieses Wort Lug und Trug. Erstens nahmen jene, welche es gebrauchten, die Nation für sich und für ihre Zwecke in Anspruch, sie missachteten die große Freiheits- und Humanitätstradition der deutschen Geschichte, sie maßen sich an, zu bestimmen, was und wer die Nation in ihrem Sinne zu sein hatte, sie leugneten also, dass die Deutschen in der Realität eine vielgliedrige und vielstimmige Gesellschaft sind. Und um Menschen in Not so etwas wie eine Gemeinschaft vorzugaukeln, gebrauchten sie den Begriff des Nationalsozialismus. In der DDR benutzte man, wie wir uns erinnern, stattdessen das Wort „Faschismus“, was ja von seinem semantischen Gehalt nur auf das Abzeichen der italienischen Faschisten verweist. Denn dies war ja das altrömische Liktorenbündel, also ein Symbol für politische Macht. Dass wir heute eher vom „Nationalsozialismus“ sprechen, hat gewiss gute Gründe, insbesondere weil es an die deutsche Verantwortung für die im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen erinnert. Ganz wohl ist mir trotzdem dabei nicht und ich frage mich, ob die einen vielleicht damit zugleich dem angeblich überholten Begriff der Nation einen Tritt versetzen wollen, während andere denken mögen, auf diese Weise auch der Sache des freiheitlichen Sozialismus eins auszuwischen.

Wesentlicher scheint mir aber vor allem: Im heutigen Gedenken sagen diese beide Wörter, also weder „Stalinismus“, noch „Nationalsozialismus“, etwas aus über den in meinen Augen wichtigen Unterschied zwischen beiden Herrschaftssystemen, nämlich über deren gegensätzliche Perspektive auf die Geschichte. Der Stalinismus bezeichnet, wenn man ihn auf den Sozialismus bezieht, die Perversion einer großen geschichtlichen Hoffnung, welche auf den gesellschaftlichen Fortschritt setzte. Und wir wissen, dass wichtige Impulse, diese Perversion zu überwinden, aus dem Sozialismus selbst kamen. Dieses Jahr erinnert uns, jedenfalls uns im Osten, an Prag 1968! Faschismus und Nationalsozialismus dagegen wollten den Fortschritt der Geschichte anhalten und zurückdrehen. Man wollte einer Situation sich zuspitzender Krisen entkommen, indem man der eigenen Nation versprach, sie zur Herrschaft über andere Nationen zu führen: Dafür müssten die Deutschen auf ihre geistigen und politischen Freiheiten verzichten und sich einem „Führer“ unterwerfen. Zur Verführung dienten der Rassismus und in Deutschland insbesondere der Antisemitismus und seine schrecklichen Verbrechen. Dafür musste alles das, was der geschichtliche Fortschritt gebracht hatte, zurückgenommen und zerstört werden – die Aufklärung, die bürgerlichen Freiheiten, die Emanzipation der Juden, die Emanzipation der Frauen, der Humanismus, das weltbürgerliche Ethos, die Toleranz – alles Früchte der deutschen und europäischen Geistesgeschichte.

Worin beide Herrschaftssysteme übereinstimmten, war der unbegrenzte, der totale Anspruch auf jeden Menschen in ihrem Machtbereich, ganz unabhängig davon, ob dieser der führenden Nation oder der führenden Klasse angehörte oder nicht. Daher hat man diesen Totalitarismus als den gemeinsamen Grundzug dieser beiden Herrschaftssysteme bezeichnet, obwohl sie sich wechselseitig als Feinde betrachteten.

Zu den ostdeutschen Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Diskurs gehört, dass der Begriff des Totalitarismus, jedenfalls von links, mit spitzen Fingern angefasst wird. In der Tat ist der Begriff des Totalitären ambivalent. Geprägt wurde er von dem italienischen Liberalen Giovanni Amendola als kritische Abwehr des italienischen Faschismus und des unbegrenzten Herrschaftsanspruchs Mussolinis. Doch der damit gemeinte totale Zugriff auf alle Bereiche des politischen und geistigen Lebens – diese Totalität gefiel italienischen Faschisten und deutschen Nazis durchaus. Ein einflussreicher intellektueller Unterstützer der Nazidiktatur in Deutschland, der Jurist Carl Schmitt, schrieb das Buch „Der totale Staat“. So mag man meinen, der Begriff Totalitarismus rieche nur rechtsextremistisch.

Nun kann man sich fragen, ob der begrifflich-theoretische Hintergrund des Gedenktages für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus wirklich so wichtig ist. Mich haben dazu zwei Erfahrungen aus meiner politischen Praxis in Sachsen gebracht. Die erste Erfahrung ist verbunden mit dem Hannah-Ahrendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden. Im Jahre 1991, also kurz nach der Wiederbegründung des Freistaates Sachsen, hatten prominente Landtagsabgeordnete der CDU, der SPD und der FDP die Idee, dies sei der richtige geschichtliche Moment, um sich im Geiste der streitbaren Demokratin Hannah Ahrendt wissenschaftlich mit dem Phänomen des Totalitarismus auseinanderzusetzen. Schließlich gab und gibt es in Sachsen für das Wirken beider Diktaturen reichlich Befunde. Jedenfalls gelang es diesen Abgeordneten, dafür einen mit breiter Mehrheit gefassten Beschluss des Sächsischen Landtages zu erreichen. Auch in der bundesdeutschen Wissenschaft gab es dafür namhafte Unterstützer, doch überwog dort, jedenfalls nach meinem Eindruck, eine kritisch-abwartende Distanz. Das zeigte sich mit schöner Regelmäßigkeit, wenn das Hannah-Ahrendt-Institut, was bei einer wissenschaftlichen Neugründung nicht ungewöhnlich ist, durch die Ungunst der Umstände oder durch eigene Fehlentscheidungen in die öffentliche Kritik geriet. Dass die Totalitarismusthese nicht der geeignete Forschungsansatz sei, meinten manche dann stets sagen oder schreiben zu sollen. Trotzdem hat sich das Hannah-Ahrendt-Institut bis heute behaupten können.

Eine ungleich existentiellere Erfahrung machte ich dann, als Landesregierung und Landtag beschlossen, die denkmalwürdigen Hinterlassenschaften beider Diktaturperioden in Sachsen und die Zeugnisse des Widerstandes gegen diese ungleichen Herrschaftssysteme in einer Stiftung zusammenzufassen. Denn nun saßen sich im Beschlussgremium dieser Stiftung die Repräsentanten der beiden Gruppen von Opferverbänden gegenüber, also Opfer des Stalinismus und Opfer des Nationalsozialismus. Und da die Stiftung in den Geschäftsbereich des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst und also in meine politische Verantwortung fiel, hatte ich als Vorsitzender, unterstützt vom Sozialminister, meinem Kollegen Dr. Hans Geisler, die nicht selten sehr emotionalen Debatten zu moderieren und zu einem konstruktiven Ergebnis zu bringen. Meine zwölf Jahre in Sachsen waren gewiss eine spannungsvolle und eigentlich nie streitarme Zeit, doch die Sitzungen dieses Stiftungsgremiums empfinde ich noch heute als eine besondere Herausforderung. Denn da saßen ja unterschiedliche Schicksale am Tisch, die jeder für sich eine existentiell bezeugte und also auch nicht verhandelbare Lebenswahrheit darstellten. Was ich eben über den Wert und die Grenzen theoretischer Begriffe für die Erkenntnis der Wirklichkeit anzudeuten versuchte, das saß als durchlebte und durchlittene Existenz mir jetzt am gleichen Tisch gegenüber. Und es war durch die Personen, die sie bezeugten und für sie stritten, eine widersprüchliche Wahrheit, ja, es konnten gegensätzliche Wahrheiten sein. In einer solchen Situation erfährt man den Wert und die Grenzen begrifflicher Klarheit. Zur eigenen Orientierung sind die Theoreme, welche die Geschichte abbilden, unverzichtbar, doch als Antworten auf persönliche Zeugnisse taugen sie nur begrenzt. Da können sie nur Orientierungsmarken sein, um zu einem gemeinsamen Ergebnis oder doch zumindest zu einem nicht am Widerspruch einer Seite scheiternden Handeln, also zu einem gemeinsamen Beschluss zu kommen. Denn ohne Handlungsaufträge für die Stiftungsverwaltung wäre die Sitzung ja gescheitert, der Sinn der Stiftung nicht erfüllt und was dann? In solchen Situationen erfährt man die Grenzen ideologisch scheinbar völlig klarer Positionen, ja, die Grenzen jedweder Ideologie. Und zugleich erfährt man die Bedeutung von Freiheit als gemeinsamen und auch im Streit verbindenden Wert.

Ich musste an meine sächsischen Erfahrungen denken, als 2009 das Europäische Parlament unseren heutigen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus beschloss. Mit großer Mehrheit folgten die Abgeordneten damit einer, soviel ich weiß, mittelosteuropäischen Anregung. In einer Entschließung bekundeten die Abgeordneten ihren „Respekt für sämtliche Opfer totalitärer und undemokratischer Regime in Europa und bezeug(t)en ihre Hochachtung denjenigen, die gegen Tyrannei und Unterdrückung gekämpft haben.“ Ziel sei, zu einer gemeinsamen Sicht der Geschichte zu gelangen. Das ist ein großes Ziel. Ist es auch wirklichkeitsgemäß? Wenn Europa als Friedensprojekt gelingen soll, bedarf es jedenfalls versöhnter oder zumindest wechselseitig verstandener und wechselseitig verstehbarer Sichten der Geschichte. Denn der ernsthafte Wille zum wechselseitigen Verstehen könnte Schritte zu einer belastbaren gemeinsamen Sicht auf die Geschichte in Europa ermöglichen.

Davon sind wir jedoch noch weit entfernt Das gilt insbesondere für unsere mittelosteuropäischen Nachbarn. Denn soweit sie nicht Verbündete Nazideutschlands waren, hatten sie keinen Anteil an dessen Verbrechen, sondern waren Opfer nazideutscher Aggression. Und waren sie mit Nazideutschland verbündet, so waren sie nicht dessen gleichberechtigte Partner, sondern eher genötigte Vasallen. Jedenfalls waren alle, ob Opfer oder Verbündeter Nazideutschlands, danach, nämlich von 1945 bis 1989, also für mehr als ein halbes Jahrhundert, Objekte sowjetischer Politik. Darum dominiert bei ihnen die Erinnerung an die stalinistische Herrschaft. Darum ist für sie Freiheit nicht zu denken ohne die Bedeutung der Nation und des Nationalstaates. Ich sage das deshalb, weil das zur inneren Wahrheit des heutigen Gedenktages gehört. Auch ich hoffe, auf eine den Menschen in der Europäischen Union in wesentlichen Elementen gemeinsame Sicht auf die europäische Vergangenheit. Und damit auf die Europäische Union als Friedensprojekt. Doch die Bedeutung der europäischen Nationen und ihrer Staaten wird mit Sicherheit ein Element dieser gemeinsamen Sicht auf die Geschichte sein. Nicht nur, weil das in Mittelosteuropa selbstverständlich ist. Auch in West-, Süd- und Nordeuropa wird das nicht ernsthaft bestritten – nicht trotz, sondern gerade wegen der wachsenden Globalisierung und Internationalisierung. Für mich ist der Ausstieg aus der Nation eine spezifisch bundesdeutsche Marotte, eine Art neuer deutscher Sonderweg, wenn auch diesmal nicht nach rechts.

Wozu mahnt uns also das heutige Gedenken der Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus? Was ist die positive Schlussfolgerung, die wir aus den Leiden der Vergangenheit ziehen? Als erstes natürlich der entschlossene Widerstand gegen alle extremistischen Feinde unserer Freiheit. Doch das genügt nicht. Ich denke, wir sollten über eine Formulierung nachdenken, zu der Hannah Ahrendt, unbestritten eine scharfsinnige Kritikerin und entschiedene Gegnerin der nazideutschen wie der sowjetischen Diktatur, in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ gekommen ist. Es ist eigentlich ein Satz zum Nachlesen, nicht zum Vorlesen. Darum werde ich ihn zweimal zitieren:

„Das Wesentliche der totalitären Herrschaft liegt also nicht darin, dass sie bestimmte Freiheiten beschränkt oder beseitigt, noch darin, dass sie die Liebe zur Freiheit aus den menschlichen Herzen ausrottet, sondern einzig darin, dass sie die Menschen, so wie sie sind, mit solcher Gewalt in das eiserne Band des Terrors schließt, dass der Raum des Handelns, und dies ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet.“

Die Wirklichkeit der Freiheit offenbart sich also im Raum unseres Handelns. Anders gesagt, soweit wir nach unserer Einsicht und Abwägung, nach unserer Selbstbestimmung und Entscheidung handeln können, erfahren wir die Wirklichkeit der Freiheit. Es geht jedoch bei der Abwehr totalitärer Herrschaft nicht nur um meine Freiheit, sondern stets um unsere Freiheit, also auch die des politischen Gegners, so er sich zur Freiheit und Menschenwürde bekennt. Sobald ich nicht von meiner Freiheit, sondern von unserer Freiheit spreche, muss ich in den Blick nehmen und im Blick behalten, dass es neben mir als Handelndem noch andere Handelnde gibt. Es gibt also nicht nur meinen Willen, nicht nur meine Meinung, nicht nur meine Interessen. Es gibt – wie in der Realität des Lebens – viele neben mir. Und von denen sind einige entschieden zumindest gegen einiges von dem, was ich für richtig und unverzichtbar und wertvoll halte. Für uns alle ist jedoch, mit Hannah Ahrendt gesprochen, der Raum des Handelns die Wirklichkeit der Freiheit. Wenn also jeder und jede in Freiheit reden und handeln sollen, dann müssen die Freiheitsrechte, die sie dafür in Anspruch nehmen, eine gemeinsame Ordnung bilden. Humane Freiheit ist also das gemeinsame Fundament unseres Handelns.

Genau das war das Motiv der Mütter und Väter des Grundgesetzes, das sie über politische und weltanschauliche Unterschiede miteinander verband. In den Artikeln 1 bis 17 bekannten sie sich zu den aus der Menschenwürde folgenden Grundrechten als den Säulen jenes Handlungsraumes, in dem wir unsere gemeinsame Freiheit zu gestalten haben. Die Grundrechte definieren und beschreiben also unsere gemeinsame Freiheit. Denn sie bilden und garantieren für alle eine freiheitliche demokratische Grundordnung. Und damit es darin kein Missverständnis geben kann, legten die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates im Artikel 18 des Grundgesetzes fest, dass, wer diese Grundrechte zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht, diese Grundrechte verwirkt. Das wiederum ist durch das Bundesverfassungsgericht auszusprechen.

Die Abgeordneten hatten die bittere Lektion des Untergangs der Weimarer Republik miterlebt. Die zweite deutsche Republik sollte vor einem solchen Schicksal bewahrt bleiben. Darum sollte sie nach dem Willen der Abgeordneten eine handlungsfähige und wehrhafte Demokratie sein. Von alledem höre und lese ich in unseren Zeiten wenig, zu wenig, wie ich finde. Stattdessen wird gern die Behauptung wiederholt, die Grundrechte seien Abwehrrechte gegen den Staat. Also Abwehrrechte gegen den Staat der freiheitlichen Demokratie? Dann wären die Grundrechte also nicht mehr der gemeinsame Raum freien Handelns, in dem wir alle durch Teilnahme an Debatten und Wahlen, im Konsens und im Streit, mitbestimmen, was der Gesetzgeber beschließt und wohin die Politik unseres Landes geht? Oder meinen etwa Geschichtsblinde, sie brauchten sich nur einzumischen, wenn es um ihre persönlichen Belange und Anliegen geht? Und wenn sie dabei nicht erfolgreich wären, dann würden sich um Ihre Rechte und um ihre Interessen notfalls Richter kümmern? Dabei lehren uns Geschichte und Gegenwart, dass es ohne eine handlungsfähige und handlungswillige Demokratie auch keinen Rechtsstaat gibt, der die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger schützt.

Ich fürchte, zu viele haben den Wert der gemeinsamen Freiheit aus den Augen verloren, sondern kennen nur noch ihre individuellen Freiheiten. Individualismus steht in unserer Gesellschaft ja hoch im Kurs, neuerdings wird sogar das Lob der Singularität gesungen. Als wenn es irgendeine Singularität geben könnte, die nicht rasch zum Konformismus verkommt. Dennoch bleibt natürlich wahr: Wir erfahren ständig unsere Umwelt oder doch Teile unserer Umwelt als widersprüchlich und als unbefriedigend. Überdies wird das Allgemeine und Verbindende ja auch gern unter Verdacht gestellt: Es würde ja doch nur den Bestand von Macht und Vorherrschaft geistig absichern. Also kümmern sich zu viele nicht um das Gemeinwohl, sondern um das eigene Wohl, nicht um das Gesamtinteresse, sondern um das eigene Interesse. Freilich: Wahr bleibt auch, dass es für eine gemeinschaftskritische Haltung auch vorweisbare Erfahrungen und ehrenwerte Gründe gibt. Und so wechseln sich in der Geschichte die Richtungen ab, aus denen die Angriffe auf das – tatsächliche oder vorgebliche – Allgemeininteresse kommen. Vor fünfzig Jahren verhöhnten die Achtundsechziger die „FDGO“ – die freiheitliche demokratische Grundordnung, weil sie ihnen beim Kampf für eine andere Gesellschaft im Wege zu stehen schien. Nach 1990 priesen die Neoliberalen den schlanken Staat, weil sie meinten, erfolgreicher zu sein ohne staatliche Regelungen und staatliche Institutionen. Sollen doch die weniger Erfolgreichen zusehen, wo sie bleiben!

Nun mag man mir entgegenhalten: Wir gedenken heute der Opfer links- und rechtsextremistischer Gewalt. Und du redest über die Gefährdung der Freiheit in unserer demokratischen Gesellschaft. Aber das ist genau mein Punkt: Wenn die freiheitliche Demokratie gefährdet ist, dann liegen die Gründe dafür nicht zuletzt in der Mitte der Gesellschaft, nämlich bei uns, die wir über allem Meinungsstreit und Interessengegensatz und unseren sich widersprechenden Überzeugungen uns eben nicht genügend um die gemeinsame Freiheit kümmern, also um den freiheitlichen Charakter jenes gemeinsamen Handlungsraums, in welchem wir darum ringen, wie unser Land heute und morgen sein soll.

Links- und Rechtsextremisten wird es immer geben. Im Englischen sagt man, in jeder Gesellschaft gebe es rechts und links einen lunatic fringe, einen verrückten Rand. Wie einflussreich die extremistischen Ränder sind oder werden können, das ergibt sich vor allem aus dem Verhalten jener, die sich zur freiheitlichen Demokratie bekennen. Sie müssen den Wert der gemeinsamen Freiheit hochhalten und verteidigen. Und sich dabei ehrend der Opfer freiheitsfeindlicher Diktaturen erinnern. Sie müssen die Erfahrungen aus jenen geschichtlichen Zeiten beherzigen, welche der heutige Gedenktag mit den Begriffen „Stalinismus“ und „Nationalsozialismus“ benennt. Denn in beiden Systemen finden wir, um es mit Hannah Ahrendt zu sagen, Elemente totaler Herrschaft. Darum müssen die Freunde der Freiheit, auch wenn sie untereinander streiten, das gemeinsame Gut der Freiheit gegen extremistische Angriffe von wem auch immer entschlossen verteidigen.

Nicht zuletzt zeigt uns unsere Gegenwart, wie wichtig diese Erinnerung ist. Denn die Erinnerung an Geschehenes ist eine ständige Warnung, Ähnliches oder Vergleichbares nicht noch einmal in seiner Gefährlichkeit zu unterschätzen. Viele von uns stehen unter dem bedrängenden Eindruck, dass heute wieder Dinge geschehen und Stimmen laut werden, die wir nicht mehr für möglich gehalten hätten. Der Maßstab für unsere Haltung muss stets lauten: Freiheit und Humanität gehören zusammen. Der Prozess gegen die Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes ist gerade erst zu Ende gegangen. Können wir wirklich sicher sein, dass Ähnliches nicht noch einmal geschieht? Innerhalb kürzester Frist hat sich das Maß dessen, was gesagt und behauptet werden kann, dramatisch verändert, wie das Internet uns täglich demonstriert. Sogar ordinärer Rassismus ist wieder sagbar geworden. Und die Millionen Toten der Shoa sind für zu viele kein Grund, nicht die unsäglichen Lügen des Antisemitismus zu wiederholen. Selbstverständlich kann, ja, muss die Politik der israelischen Regierung, wie die jeder anderen Regierung, kritisiert werden, wenn diese friedengefährdend ist, doch antizionistische Hetze und antizionistische Aktionen gegen den Staat Israel oder generell gegen die Juden sind durch nichts zu rechtfertigen.

Der heutige Gedenktag mahnt uns in doppelter Weise. Erstens zu kritischer Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Extremismus. Dafür ist seit vielen Jahren ihr Einsatz für diese Gedenkstätte in der Leistikowstraße ein gutes Beispiel. Denn dieser Ort erinnert eindringlich an das sowjetische Unrecht, das an dieser Stelle über viele Jahre an Menschen unterschiedlicher politischer Überzeugung und sozialer Herkunft begangen wurde. Diese geschichtliche Tatsache darf nicht vergessen werden, sondern muss eine Warnung bleiben für uns und für künftige Generationen. Entscheidend bleibt gleichwohl, wie wir mit dieser gemeinsamen Freiheit umgehen, wenn wir uns darum streiten, wie die Gegenwart und die Zukunft unseres Gemeinwesens aussehen sollen. In was für einer Sprache reden wir da miteinander, mit welchen Methoden suchen wir uns durchzusetzen. Und nicht zuletzt: Widerstehen wir stets der Versuchung, uns, je nach Standort, mit Rechts- oder Linksextremisten zu verbinden oder auch nur ein wenig mit ihnen zu kokettieren, achten wir genügend darauf, ihre Sprache und ihre Denkmuster nicht zu übernehmen?

So lange die Idee der gemeinsamen Freiheit vital ist, so lange sie die politische Kultur unseres Landes prägt, haben Extremisten keine wirkliche Chance. Doch wenn wir die Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Freiheit aufgeben, wenn wir die Freiheit gleichsam individualisieren und nur noch unsere jeweiligen Interessen kennen, wenn wir meinen, Wahlen und Debatten seien unwichtig, denn wir könnten ja notfalls unsere Sache vor Gerichten ausfechten oder uns gar durch Geschrei und Gewalt durchsetzen, dann ist die Freiheit in Gefahr. Denn sie ist dann ja nicht länger ein die Menschen verbindendes gemeinsames Gut. Und lehrt uns die Geschichte nicht, wie labil, wie gefährdet das Bewusstsein vom Wert der gemeinsamen Freiheit ist? Haben wir nicht oft genug erlebt, dass sie von Stimmungen und zeitgemäßen Meinungen abhängen kann? Darum mahnt dieser europäische Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus auch uns selbst. Gewiss ist die Freiheit stets bedroht und gefährdet durch die Feinde und Verächter der Freiheit. Doch ist sie auch bei uns, die wir ihre Freunde sein wollen, stets in guten Händen? Die Freiheit ist gewiss eine große Chance, doch sie ist eben zugleich Anspruch und Risiko. Darum ist die Freiheit allzeit bedroht. Halten wir fest an unserer gemeinsamen Freiheit!

Phönix aus der Asche: Von der Kraft europäischer Erinnerungen an Stalinismus und Nationalsozialismus

Vortrag von Karl-Konrad Tschäpe am 23. August 2017

Phönix aus der Asche: Von der Kraft europäischer Erinnerungen an Stalinismus und Nationalsozialismus – so lautet der Titel meines Vortrags heute. Und wir haben uns heute versammelt am Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus. Es geht also um die Erinnerung an größtes Unglück, und immer wieder wird gefragt, warum wir diese Erinnerungen immer noch wachhalten, warum wir uns das antun, warum wir uns das zumuten. Ich selber arbeite in Frankfurt an der Oder in der Gedenk- und Dokumentationsstätte „Opfer politischer Gewaltherrschaft“, einem Ort, an dem bereits zu NS-Zeit Menschen aus politischen Gründen inhaftiert waren und misshandelt wurden, in dem nach 1945 laut Aktenbefunden über 1.200 Menschen gleichzeitig in einem Haus eingepfercht gewesen sein müssen, das für 130 Personen ausgelegt war – allerdings möglicherweise unter Einbeziehung der benachbarten Kirchen – und in dem nachweislich über 100 Personen nach Urteilen Sowjetischer Militärtribunale erschossen wurden. Eine große Gruppe weiterer Personen passierte das Gefängnis auf dem Weg zur Erschießung in der Sowjetunion: Das meiste der Geschichte des Hauses zwischen 1945 und 1950 liegt jedoch im Dunkeln und harrt weiterer Erforschung. Im Unterschied zu den Gedenkstätten in der Leistikow- und Lindenstraße in Potsdam haben wir für Frankfurt kaum einen einzigen Zeitzeugenbericht aus diesem Zeitkontext, also keinen Bodo Platt, keinen Horst Schüler, Gerd Utech,– um nur einige wenige stellvertretend zu nennen, auch keine Interviewsammlung wie die, die in den Band „Von Potsdam nach Workuta“ eingegangen ist; was wir über das Frankfurter Gefängnis unter sowjetischem Regime wissen, stammt aus den Akten russischer Archive, und es spiegelt somit ausschließlich die Sicht der Verfolger wider. Was wir haben, ist eine Ausstellung und einiges Wissen über die Rückkehrer aus der Sowjetunion, über die etwa 1,8 Millionen deutschen Soldaten und Zivilisten, die allein zwischen 1945 und 1950 in Frankfurt Ihre Freiheit aus sowjetischer Lagerhaft zurückerhielten und in ihren Erinnerungen die Stadt häufig erwähnen als ersten Punkt auf deutschem Boden nach Jahren des Hungers, der Krankheit, häufig schwerster körperlicher Arbeit, härtester Entbehrungen: Auch in den Erinnerungen einiger derjenigen, die in diesem Gefängnis ihren Leidensweg begannen, findet Frankfurt entsprechend Erwähnung, wenn auch hier schon aus späterer Zeit.
Der Anlass unserer Begegnung heute ist ein sehr ernster, und so werde ich Ihnen am heutigen Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zunächst einiges zumuten.
Die Zumutung eines Tages wie diesem liegt darin, dass wir uns freiwillig Unglück vergegenwärtigen. Wie hatte noch Friedrich Nietzsche vom Glück geschrieben in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung, die den Titel trägt „vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“? Er beschreibt es wie folgt in einem Bild, einige von Ihnen kennen es wahrscheinlich: „Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und er will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier. Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: so das der Mensch sich darob verwunderte.“

Ganz offensichtlich haben wir, ganz besonders an einem Tag wie diesem, auf den Wunsch verzichtet, „weder überdrüssig noch unter Schmerzen“ leben zu wollen. Wir haben uns für etwas anderes entschieden: Ein Leben in Würde. Aber sind wir auch bereit, die ganze Härte der Erinnerung an die Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus auf uns zu nehmen? Es ist dies eine nicht enden wollende Geschichte dunkelster Extremfälle menschlicher Niedertracht und Verstrickung in das Übel.
Einer dieser Extremfälle ist das Beispiel eines deutschen Polizeibataillons aus Hamburg, das Christopher Browning in seiner Studie „Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen“ untersucht hat. Er beschreibt, wie die Männer dieses Bataillons – es sind etwa 500 Mann – eines Morgens in die ostpolnischen Ortschaft Jósefów gebracht werden und von ihrem Kommandeur Major Trapp, denn sie liebevoll „Papa Trapp“ nennen, in eine außergewöhnliche Situation gebracht werden. Browning beschreibt anhand von späteren Zeugenaussagen diese Situation wie folgt: „Trapp war bleich und nervös, hatte Tränen in den Augen und kämpfte beim Reden sichtlich darum, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Das Bataillon stehe vor einer furchtbar unangenehmen Aufgabe, erklärte er mit tränenerstickter Stimme. Ihm selbst gefalle der Auftrag ganz und gar nicht, die ganze Sache sei höchst bedauerlich, aber der Befehl dazu komme von ganz oben. Vielleicht werde ihnen [gemeint sind die Polizisten, KKT] die Ausführung leichter fallen, wenn sie an den Bombenhagel dächten, der in Deutschland auf Frauen und Kinder niedergehe.“ Dann führt er weitere Begründungen für etwas auf, das niemals begründbar sein kann, er nennt den amerikanischen Boykott, der von Juden gegen das Deutsche Reich angezettelt worden sei oder Partisanenaktionen, in welche die Juden angeblich verstrickt seien. Das Bataillon habe nun den Befehl, die Juden aus der Ortschaft zusammenzutreiben, die Männer im arbeitsfähigen Alter auszusondern und in ein Arbeitslager zu verbringen. Alle übrigen – Frauen, Kinder und ältere Männer – seien vom Polizeibataillon auf der Stelle zu erschießen. Schließlich bietet Trapp – übrigens im Gegensatz zu anderen Kommandeuren – auch noch denjenigen an, die sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlten, sich an der Aktion nicht zu beteiligen, ein Angebot, das in unterschiedlichen Phasen der Mordaktion dann auch von einigen Männern wahrgenommen wird, wobei diese dann damit riskieren, vor ihren Kameraden als weich, feige, als Drückeberger zu erscheinen.
Während viele von uns bei dem Wort „Holocaust“ automatisch an Auschwitz denken, ist das, was auf die Ansprache Trapps folgt, das eher „Typische“ für den Mord an den europäischen Juden. Die meisten Opfer des deutschen Judenmords wurden in der Nähe der Orte erschossen, in denen sie wohnten – während ein geringerer Teil der Opfer in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern vergast wurde.
Die Polizeimänner wurden in das Judenviertel von Jósefóf geschickt, um die Bewohner zusammenzutreiben. Nicht Transportfähige wurden sofort ermordet: „Schreie und Schüsse erfüllten die Luft“, heißt es bei Browning. Nun erhalten die Polizisten der 1. Kompanie vom Bataillonsarzt eine Lektion. Ein Beteiligter sagt dazu aus: „Er hat uns sogar noch genau erklären müssen, wie wir zu schießen haben, um den sofortigen Tod des Opfers herbeizuführen.“ Dabei wird das Schema eines menschlichen Körpers aufgezeichnet und darauf der Punkt markiert, „auf dem das aufgepflanzte Seitengewehr als Hilfszielmittel angesetzt werden sollte.“ Noch ehe die arbeitsfähigen jüdischen Männer in ein Arbeitslager abmarschieren, hören sie Schüsse aus dem nahegelegenen Wald. „Nach den ersten Salven [entstand] unter diesen Handwerkern eine erhebliche Unruhe [und] etliche Männer [warfen sich] weinend auf die Erde. […] Ihnen dürfte zu diesem Zeitpunkt klar geworden sein, dass ihre zurückgebliebenen Familienangehörigen erschossen wurden.“ – so die Aussage eines damals Beteiligten, mehrere weitere Polizisten erwähnen diese furchtbare, von Schreien erfüllte Szene ebenfalls. Tatsächlich werden die Zusammengetriebenen Frauen, Kinder und Alten nun in Gruppen von 30-40 Personen auf LKWs verfrachtet, in den Wald gebracht. Auf dem Weg unterhalten sich einige der Polizisten noch mit ihren Opfern, stellen fest, dass einige nicht nur deutsch sprechen, sondern Deutsche sind. Vergeblich bittet ein älterer Mann aus Bremen einen Polizisten um Verschonung, zeigt ihm seinen Orden aus dem Ersten Weltkrieg. Im Wald müssen sich die Juden gruppenweise hinlegen und werden von einer ebensogroßen Zahl Polizisten der Anleitung des Arztes entsprechend erschossen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit dauert der Mord an. Noch verstörender ist die Lektüre über die Erschießungsaktion, die die zweite Kompanie an diesem Tag durchführt, denn sie erhielt im Gegensatz zur ersten Kompanie keine ärztliche Anleitung zum Mord. Entsprechend schossen sie ohne aufgepflanzte Bajonette als Zielhilfe. Ein damals Beteiligter sagt aus: „Zuerst wurde stehend freihändig erschossen. Wenn man zu hoch hielt, sprang die ganze Schädeldecke ab. Das hatte zur Folge, dass Gehirnteile und auch Knochen in der Gegend umherflogen.“ Daraufhin wurden auch hier Bajonette als Zielhilfe verwendet. Doch wiederum heißt es: „Fehlschüsse waren nun [zwar] weitgehendst vermieden, es trat aber eine andere schreckliche Folge ein. Durch den dadurch bedingten Nahschuss traf das Geschoss mit derartiger Rasanz den Schädel des Opfers, dass oftmals der Schädel oder die ganze hintere Schädeldecke abgerissen wurde und nun Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse durch die Gegend spritzten und die Schützen beschmutzten.“ Einige der Polizisten finden offenbar gerade an dieser Wirkung Gefallen und schießen absichtlich so in die Schädel der Opfer, dass sie bersten, so jedenfalls nehmen es einige ebenfalls an den Erschießungen Beteiligte wahr. Als die Mordaktion am späten Abend mit der Erschießung der letzten Opfer beendet ist, verlassen die Polizisten den Wald und lassen die Leichen unbeerdigt zurück, denn niemand hatte sich zuvor darüber Gedanken gemacht, wie so viele Menschen bestattet werden sollten. Als die Männer schließlich abends zurück in ihre Unterkünfte in der etwa 30 km von Jósefów entfernten Stadt kommen, waren sie, wie Browning ermittelt hat, „bedrückt, empört, verbittert und erschüttert. Sie aßen wenig und tranken viel. Es wurde reichlich Alkohol ausgegeben, und viele Polizisten betranken sich ziemlich stark. Major Trapp ging herum und versuchte, seine Männer zu trösten und wieder aufzubauen, wobei er betonte, dass höhere Stellen die Verantwortung hätten. Doch vielen Polizisten konnten weder der Alkohol noch Trapps tröstende Worte das Entsetzen und die Scham nehmen, die sie empfanden. Trapp bat die Männer, nicht darüber zu reden, aber dieser Bitte hätte es gar nicht bedurft. Die Polizisten, die nicht im Wald waren, wollten keine Einzelheiten hören, und diejenigen, die selbst mit dabeigewesen waren, hatten weder damals noch später den Wunsch, darüber zu reden.“ Browning betont, dass „Praktisch alle Bataillonsangehörigen – selbst die, die sich den ganzen Tag über an den Erschießungen beteiligt hatten – … über das, was man ihnen in Józefów abverlangt hatte, empört und verbittert“ waren, wobei er die erfolgte „Demoralisierung“ „auf das Entsetzliche des Tötungsverfahrens selbst“ zurückführt. In der Folge wird das Tötungsverfahren entsprechend rationalisiert – auch der Bau der Todesfabriken erfolgt unter diesem Zeichen – für folgende Erschießungen werden nun Hilfswillige aus der Ukraine aus den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern rekrutiert, welche unter starkem Alkoholeinfluss einen erheblichen Teil der Drecksarbeit zu erledigen haben. So bei der nächsten Mordaktion in der polnischen Ortschaft ?omaszy, die sie unter Befehl des deutschen Oberleutnants Gnade und eines SS-Offiziers durchführen. Browning beschreibt sie anhand von Zeugenaussagen der damals Beteiligten so: „Die Juden wurden gezwungen, in kleinen Gruppen durch ein lichtes Spalier von Wachposten die etwa 30 bis 50 Meter von den Entkleidungsstellen zum Grab zu laufen. Auf drei Seiten der Grube war die Erde zu Wällen aufgeworfen worden, während die vierte eine leichte Böschung bildete, die die Juden hinuntergetrieben wurden. Betrunken und aufgeregt wie die ‚Hilfswilligen‘ waren, erschossen sie die Juden anfangs gleich am Eingang der Grube. ‚Das hatte zur Folge, dass die ersten toten Juden den Einstieg versperrten. So gingen dann einige Juden in die Grube hinein und zogen die Leichen vom Einstieg weg. Alsbald wurden die Juden in größeren Mengen in die Grube hineingetrieben, und die Hiwis hatten nun Aufstellung auf den aufgeworfenen Wällen genommen. Von dort aus erschossen sie die Opfer.‘ Mit jedem neuen Schuss füllte sich die Grube weiter. ‚Die nachfolgenden Juden mussten nun selbst auf die zuvor Erschossenen steigen, bzw. später sogar klettern, da die Leichen innerhalb der Grube fast bis zum Grubenrand aufgetürmt waren.‘
Die ‚Hilfswilligen‘, die in vielen Fällen mit der Flasche in der Hand dastanden, wurden genau wie [Oberleutnant] Gnade und der SS-Offizier immer betrunkener. ‚Während Gnade mit seiner Pistole vom Erdwall aus schoss, wobei er mehrmals Gefahr lief, in die Grube zu stürzen, war der SS-Offizier genau wie die Hiwis in die Grube hineingegangen und schoss von hier aus, da er sich infolge der Trunkenheit nicht mehr auf dem Wall gehalten hätte.‘ In der Grube stieg das mit Blut vermischte Grundwasser bald soweit an, dass es den ‚Hilfswilligen‘ bis über die Knie reichte. Mit zunehmender Trunkenheit fielen die Schützen, einer nach dem anderen, aus.“ Daraufhin müssen sich nun doch auch weitere deutsche Polizisten an der Mordaktion beteiligen. In der Grube steht das Grundwasser allerdings einen halben Meter hoch, darin „schwammen im ganzen Grubenbereich Leichen umher“. Als schließlich auch hier der letzte Jude ermordet ist, erhält der polnische Bürgermeister den Auftrag, sich um die Beerdigung der Opfer zu kümmern.
Was ich Ihnen hier vorgetragen habe, ist wie mit dem Mikroskop auf die Geschichte von Gewalt und Massenmord in Europa gesehen. Es historisch einzigartig, aber es ist nicht in jeder Hinsicht präzedenzlos. Und auf andere Weise einzigartig ist das, was sich freilich in einem anderen historischen – also zeitlichen, ideellen und räumlichen – Kontext in den Jahren 1937/38 bei Moskau auf dem butovskij poligon, also auf dem Schießplatz Butowo ereignet und das Karl Schlögel in seiner Arbeit „Terror und Traum, Moskau 1937“ beschreibt. Dorthin waren am 8. August 1937 die ersten 91 Delinquenten aus Moskauer Gefängnissen zur Erschießung gebracht worden, die letzten 52 Opfer am 19. Oktober 1938. 20.761 Personen verloren in den nur 15 Monaten, die zwischen diesen Daten liegen, an dieser Stelle ihr Leben. Kaum einer von ihnen wusste, aus welchen Gründen er verhaftet worden war, geschweige denn, weshalb man ihn zum Tode verurteilt hatte. Karl Schlögel schreibt: „Die Menschen, deren Körper nach dem Schuss in den Hinterkopf in die ausgehobenen Gräben fielen, und von einem eigens angeschafften Bagger Marke ‚Komsomolez‘ zugeschüttet wurden, kamen aus allen Schichten des Volkes, aus allen Regionen der Sowjetunion, es waren die Bürger zahlreicher ausländischer Staaten darunter, alle Konfessionen waren vertreten. Unter den Ermordeten waren die Angehörigen der alten vorrevolutionären Elite ebenso wie Mitglieder der alten bolschewistischen Garde. Namenlose wurden ebenso verscharrt wie einst prominente Persönlichkeiten: Generäle, Sportler, Piloten, Künstler. Butowo wurde zum Massengrab für Tausende, die nur deshalb erschossen wurden, weil sie einer bestimmten Nationalität angehörten. Und viele fanden den Tod in Butowo, obwohl sie keiner der gesuchten und der Verfolgung ausgesetzten Kategorien angehörten und nur deshalb, weil die Richtzahl der zur Tötung Freigegebenen von den staatlichen Terrororganisationen noch nicht erfüllt war. Es genügte, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, um in das Räderwerk des Großen Terrors zu geraten.“ Tatsächlich existierte allein für das Moskauer Gebiet anfangs eine Quote von 5000 Menschen, die nach „Höchstmaß der Strafe“ – also zum Tode – zu verurteilen waren, weitere 30.000 sollten entsprechend zu Lagerhaft verurteilt werden. Doch der Große Terror findet bei weitem nicht nur in Moskau, sondern in der gesamten Sowjetunion statt, er wird 1,5 Millionen Opfer fordern, von denen etwa 700.000 ermordet werden. Butowo war also, wie Schlögel schreibt, „nur ein Punkt in einem Netzwerk, das der Aussonderung, Festsetzung, Einschließung, Verschickung und Tötung diente.“ Ein ehemaliger NKWD-Mitarbeiter sagt hierzu nach der Perestroika: „Man verhaftete und erschoss ganze Familien, unter denen vollständig analphabetische Frauen, Minderjährige und sogar Schwangere waren, und alle hat man als Spione erschossen … allein deshalb, weil sie ‚Nationale‘ waren“, also einer bestimmten Nation angehörten. Methoden werden entwickelt, um die Verhaftungen und Erschießungen nach Quote effektiver zu gestalten, die berüchtigte „Album-Methode“ etwa; zwischen den Verantwortlichen entspannen sich Wettbewerbe um die Erfüllung der Vorgaben zur Zerstörung von Biographien und Menschenleben – die Untersuchung von Fällen und Vorwürfen wird buchstäblich im Minutentakt erledigt.
Es finden sich auch Zeugenaussagen zu den Erschießungen in Butowo. In den 1990er Jahren beschreibt sie der ehemalige Kommandant der Wirtschaftsabteilung des Moskauer NKWD wie folgt – und ich gebe Ihnen hier ein längeres Zitat wider, das ich wieder Karl Schlögels „Terror und Traum“ entnehme –: „Die Menschen die zur Erschießungen verurteilt worden waren, bringt man nach Butowo, ohne ihnen mitzuteilen, weswegen und wohin. Das wurde mit Bedacht so gemacht, um überflüssige Komplikationen zu vermeiden. Die avtosaki – also die Gefangenentransporter –, in denen man bis zu 50 Menschen untergebracht hatte, fuhren zum Schießplatz von der Seite des Waldes heran gegen 1 bis 2 Uhr nachts. … Die Zone war mit Stacheldraht eingezäunt. Dort, wo die Autos anhielten, befand sich eine Erhöhung für die Wache und für den Scheinwerfer, der an den Bäumen befestigt war. Nicht weit davon waren zwei Gebäude zu sehen: ein nicht großes steinernes Haus und eine sehr lange, an die 80 Meter lange Holzbaracke. Man führte die Menschen in die Baracke gleichsam zur sanobrabotka, zur Hygienebehandlung. Unmittelbar vor der Erschießung wurde das Urteil mitgeteilt, die Daten überprüft. Dies wurde sehr sorgfältig gemacht. Naben den Akten für die Ausführung der Urteile gibt es in den Dokumenten Auskunftsberichte, die genaue Angaben zu Geburtsort oder Namen des Verurteilten verlangen.
Und bei dem Tempo, mit dem damals die Untersuchungen durchgeführt worden sind, darf man sich nicht wundern, dass es in Butowo vorkam, dass man anstelle des einen dessen Bruder hingerichtet hat. Eine Hinrichtung konnte aufgeschoben werden, wenn sich herausstellte, dass ein Photo fehlte, mit dem die Identität eines Verurteilten zu beweisen war. In all diesen Fällen wurde die Ausführung des Urteils aufgeschoben, und man schickte die Leute ins Gefängnis zurück. Diese Penibilität am Exekutionsort wirkte sich manchmal zugunsten der Menschen aus, doch Fälle der Aufhebung eines Todesurteils waren äußerst selten; gewöhnlich wurde nach der Klärung des Missverständnisses der Betreffende auf den Schießplatz zur Exekution zurückgebracht. Es kam auch vor, dass allen Kontrollen zum Trotz Irrtümer unterliefen; man erschoss aus Versehen jene, die die nur zu Lagerhaft, nicht aber zum Tode verurteilt worden waren, und umgekehrt. In diesem letzteren Fall bestand noch die Möglichkeit einer Korrektur des Fehlers, im ersten Fall natürlich nicht mehr. Es kam aber auch Folgendes vor: Eine in den 1950er Jahren als erschossen registrierte Person meldete sich plötzlich und schrieb eigenhändig ein Gesuch zu ihrer Rehabilitierung. Dies bedeutet, dass in den Jahren 1937-1938 ein anderer irrtümlich an ihrer Stelle erschossen worden war. …
Man führte die Verurteilten einzeln aus dem Barackengebäude. Dort erschienen die Exekutoren, die sie in Empfang nahmen und sie – jeder mit seinem Opfer – nach hinten zum Graben auf dem Schießplatz führte. Am Rand des Grabens schossen sie aus unmittelbarer Nähe in den Hinterkopf. Die Körper der Erschossenen warfen sie in den Graben und bedeckten den Boden des tiefen Grabens. Mit dem ‚Aufräumen‘ der Leichen beschäftigten sich speziell dafür eingeteilte Mitarbeiter des NKWD.
Pro Tag erschoss man selten weniger als 100 Menschen. Es gab auch 300 und 400 und mehr als 500. … Die Vollstrecker des Todesurteils benutzten ihre eigene Waffe, die sie meistens im Bürgerkrieg erworben hatten; gewöhnlich war dies eine Pistole vom Typ ‚Nagant‘, die sie für die genaueste, am einfachsten zu bedienende und störungsärmste hielten. Bei den Erschießungen sollten Ärzte und ein Staatsanwalt anwesend sein, doch wie wir aus den Geständnissen der Vollstreckungsbeamten selbst wissen, wurde dies bei weitem nicht immer beachtet. An den Erschießungstagen stand für alle Exekutionsteilnehmer in der Wache ein Eimer mit Wodka bereit, aus dem sich jeder nehmen konnte, so viel er wollte (ja und wie sollte man eine solche Arbeit ausführen, ohne sich zu betäuben?!). An der Seite stand noch ein Gefäß mit Eau de Cologne, da die Ausführenden schon von weitem nach Blut und Pulver rochen. Nach ihrem eigenen Geständnis waren ‚sogar die Hunde vor ihnen zurückgeschreckt‘.“
Anschließend wurde alles sorgsam dokumentiert. „In der Kommandantur haben die Vollstreckungsbeamten die Formulare handschriftlich ausgefüllt und ihre Unterschrift unter den Akt über die Urteilsvollstreckung gesetzt. Nach allen notwendigen Formalitäten gab es Mittagessen, danach fuhr man die Ausführenden, die gewöhnlich höllisch betrunken waren, nach Moskau. Abends kam jemand von den Leuten am Ort, der mit einem Bulldozer, der für diese Zwecke am Schießplatz stand, die Leichen mit einer dünnen Erdschicht zudeckte. Am nächsten Tag wiederholten sich die Erschießungen aufs Neue. …“
Auch wenn die hier geschilderten Opfer der Nationalsozialisten wie auch die des Stalinismus durch einen Schuss von hinten ermordet werden – der Mühe, eine rechtliche Fassade konstruieren zu müssen, wie bizarr und krass widersinnig auch immer – sind die deutschen Verantwortlichen enthoben, sie agieren nach dem Prinzip Befehl und Gehorsam, und sie berufen sich auch sofort darauf. Der stalinistischen Quote steht die Totalität des Mordens auf deutscher Seite gegenüber – buchstäblich alle Juden sollen vernichtet werden und dieser Vernichtungswille wird mit höchster Perfektion, Akribie und Perfidie in die Tat umgesetzt. Dafür ist die stalinistische Gewalt willkürlicher, weniger zielgerichtet in der Wahl der Opfer: Es gibt in der Sowjetunion absolut niemanden, der vor Stalin nicht zittern müsste, der nicht damit rechnen muss, von einem Augenblick auf den anderen Opfer der Willkür zu werden.
Es sind im Vergleich zu den Zahlen der Opfer jeweils Wenige, die die Mordtaten an Vielen durchführen. Im Fall Butowo sind es offenbar maximal 12 Ausführende, sogenannte „Mitarbeiter für besondere Aufgaben“, die im ganzen Bereich Moskau die Exekutionen durchführen und die während der Massenoperationen auch noch auf „Dienstreise“ in andere Städte und Regionen abkommandiert werden können. Die Ermordung polnischer Offiziere in Katyn und anderswo wird, soweit wir wissen, ebenfalls von sehr wenigen ausgeführt. Wassili Blochin, der auch für die Erschießungen in Butowo Verantwortung trägt und von dem das Bild eines Henkers in Lederschürze, Gamaschen und Gummistiefeln – gegen das spritzende Blut – überliefert ist, erschießt in Kalinin mehr als 6.800 Männer mit nur zwei Gehilfen. Zur Hinrichtungsstätte erscheint er mit einem Koffer, in dem sich Duzende Walther Pistolen deutscher Fabrikation befinden. Täglich werden etwa 250 Menschen in einem schallgedämpften Raum erschossen. Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Zwei Männer hielten die Arme des Gefangenen und der Dritte schoss ihm in die Schädeldecke. … Das war’s.“ Auf diese Weise verlieren Menschen im Minutentakt ihr Leben. Wodka und Eau de Cologne gehören auch hier – wie in zahlreichen anderen Berichten dieser Art – zur Grundausstattung für die Mordtaten.
Ich muss es nun bei diesen Beispielen belassen – es gäbe viele weitere zu erzählen. Es gäbe andere Formen einer solchen Vergegenwärtigung, denken wir an die Dokumentation „Shoah“ von Claude Lanzmann, die m.E. zum Weltkulturerbe erklärt werden sollte, denken wir aber etwa auch an Andrzej Wajdas Film über Katyn, der mit einer schockierenden Erschießungsszene schließt, dessen Schwerpunkt aber auf der beklemmenden Atmosphäre unter den Hinterbliebenen liegt, den auf ihre Angehörigen Wartenden im Polen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Denken wir nicht zuletzt an dieses Haus. „history takes place“ – so die Lehre meines Lehrers Karl Schlögel. Der Besuch in einer solchen Gedenkstätte, die Auseinandersetzung mit der Geschichte an genau so einem Ort ist durch keine Lektüre, keinen Film und kein anderes event zu ersetzen.
Es kommt mir ohnehin nicht darauf an, hier die dunkelsten Stellen einer danteschen Hölle auszuleuchten, auch wenn der Ort, an dem wir uns hier befinden, sicher dazugehört. Und ist es nicht vergeblich und eitel, schwärzer als schwarz malen zu wollen?
Schwarze Erinnerungen, Erinnerungen also, die geeignet sind, Alpträume zu bereiten, beginnen für mich bereits mit dem Bericht eines jungen Ehepaars, deren Ausreiseantrag noch im Sommer 1989 abgelehnt worden war. Nach ihrer auf den Ablehnungsbescheid folgenden Fahrt von Frankfurt (Oder) zum Pariser Platz in Berlin am 17. Juni 1989 – ohne Plakat, Parolen oder ähnliches – werden sie für ein halbes Jahr allein deshalb ins Gefängnis gesteckt, weil sie der Aufforderung eines Volkspolizeimanns nicht nachkommen, den Platz unverzüglich zu verlassen. Während der Eiserne Vorhang in Ungarn fällt, während der dramatischen Ausreisewelle des letzten Jahres des sogenannten Sozialismus in Deutschland, während der friedlichen Proteste von DDR-Bürgern auf den Straßen Ostdeutschlands sitzen sie getrennt und ohne Wissen voneinander in verschiedenen Gefängnissen und bangen um ihre einzige Tochter. Ebenso beeindruckt hat mich die Erzählung einer über 90jährigen Frau aus einer Ortschaft nahe Frankfurt, die ich kennengelernt habe: Sie hatte zur Nazizeit einem französischen Kriegsgefangenen gegen das strenge Verbot eine Zeitung gegeben und dafür als noch Minderjährige fünf Monate in dem Gefängnis in Haft sitzen müssen, das heute Gedenkstätte ist, und in dem ich arbeite. Dazu bekam sie fünf Jahre „Ehrverlust“ – BDM-Mädel, also alle Mädchen, durften nicht mehr mit ihr sprechen; sie bekam einen Vormund zugewiesen; Tanzveranstaltungen und Kinobesuch waren ihr verboten, und die Gestapo erkundigte sich regelmäßig nach ihr. Das sind keine Geschichten von brutalem Mord und Folter – wie sie sich in Frankfurt auch – oder eben hier in der Leistikowstraße – ereignet haben. Aber die 90jährige Dame hat mir ihre Lebensgeschichte trotz ihres Alters und trotz ihrer damals ja eigentlich guten Tat nur unter Tränen erzählen können. Und gerade auch der Bericht des jungen Ehepaars von 1989 verbindet sich für mich, der ich diese Zeit schon sehr bewusst selbst miterlebt habe, mit Erinnerungen an eine Zeit, in der ich als Jugendlicher das Land, in dem ich aufgewachsen war, eigentlich einfach nur verlassen wollte, vor allem, weil ich keinen Militärdienst leisten wollte und mir das Militärische in der Schule zuwider war.
Worauf es jedoch ankommt, ist die Erkenntnis, dass wir in Europa eine reiche Erfahrung damit haben, was Zivilisationsbruch in seinen verschiedenen Schattierungen bedeutet. Die Erfahrungen, von denen ich Ihnen eingangs berichtet habe, sind europäischer Natur. Das deutsche Polizeibataillon ist nicht irgendwo eingesetzt, Leute wie sie töten nicht irgendwo, sondern meist in Polen oder auf dem Gebiet der heutigen Ukraine bzw. Weißrusslands. Sie töten auch nicht irgendwen, sondern die, von denen man ihnen sagt, dass sie Juden seien, es sind Menschen aus verschiedenen europäischen Ländern.
Auch in Butowo wird ein buntes Gemisch von Menschen liquidiert, Menschen verschiedener sozialer, kultureller und nationaler Herkunft. Die in der Leistikowstraße inhaftierten Deutschen sind hier russischsprachigem Personal begegnet, haben es mit Menschen in sowjetischen Uniformen zu tun gehabt und haben Erfahrungen häufig in den Lagern fernab der Heimat in der Sowjetunion sammeln müssen. Später bringen sie, sofern sie überleben, eine Erfahrung mit hierher: Ohne diese Erfahrung säßen wir heute nicht hier! Ganz sicher gäbe es ohne diese Erfahrung nicht das, was historisch einmalig ist, nämlich den Versuch der europäischen Länder und Kulturen, friedlich zu kooperieren, sich auf gemeinsame Werte zu besinnen, den immensen kulturellen Reichtum des Kontinents gemeinsam zu entdecken. Wenn ich meinem Vortrag „Phönix aus der Asche“ vorangestellt habe, dann einmal deshalb, weil ich damit an König Phönix anspielen möchte, den Vater der Europa also. In die schöne Asiatin verliebt sich bekanntlich der Himmelsvater Zeus, der sich in einen Stier verwandelt und die Königstochter auf einen neuen Kontinent entführt, hier wird sie gleichsam die legendäre Urmutter der Griechen und Europäer.
Vor allem aber verbinden wir „Phönix aus der Asche“ mit der wohl ursprünglich aus Ägypten stammenden Sage, die von dem wunderbaren Vogel Phoinix handelt, von Tod und Wiedergeburt und sogar von der Unsterblichkeit. Über den griechisch-römischen Kulturkreis wird diese Sage immer wieder neu erzählt, bis schließlich spätantike und frühchristliche Dichter berichten, wie dieser einzigartige Vogel verbrennt und aus der eigenen Asche neu entsteht. „Wie Phönix aus der Asche“ ist seitdem ein geflügeltes Wort für etwas, das schon totgeglaubt war und nun wie ein Wunder doch weiterlebt. Ein solches Wunder ist auch der Erfolg der Europäischen Integration, erst recht nach der Asche, die der Kontinent gesehen hat. Das Übel in Europa, das Verstörende also etwa, von dem ich Ihnen zu Beginn meines Vortrags referiert habe: Es hatte verschiedene Ursachen. Es ist wichtig, diese verschiedenen Ursachen zu benennen und zu erkennen – denn wir wollen und dürfen die Katastrophen von Stalinismus und Nationalsozialismus nicht noch einmal erleben. Das Wunder der europäischen Integration jedoch wird, so ist meine Überzeugung, aus der Kraft der Erinnerung gespeist, aus dem Bewusstsein dessen, was möglich war, zu was wir Menschen fähig sind, zu dem niemand von uns fähig sein will, und das wir schon gar nicht am eigenen Leibe durchleben wollen.
Ganz in diesem Sinne heißt es in der „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ unter Punkt I, „dass die europäische Integration von Beginn an eine Antwort auf das Leiden war, das von zwei Weltkriegen und der Tyrannei des Nationalsozialismus verursacht wurde, die zum Holocaust sowie zur Ausbreitung totalitärer und undemokratischer kommunistischer Regime in Mittel- und Osteuropa führten, [––] und ein Weg [ist] zur Überwindung tiefer Spaltungen und Feindseligkeiten in Europa im Wege der Zusammenarbeit und Integration sowie zur Beendigung des Krieges und zur Sicherung der Demokratie in Europa“.
Die Kraft der Erinnerung ist in diesem Licht gewaltig.
Ja, es ist schwer erträglich und sogar verstörend, von den schlimmen Dingen, die sich im 20. Jahrhundert ereignet haben, auch nur zu lesen und zu hören. Wir wissen, wir befinden uns hier an einem Ort der Ohnmacht, des Schmerzes und der Tränen. Aber gerade aus dieser Erinnerung wird uns auch grell bewusst, was wir gemeinsam in Europa niemals wieder zulassen wollen und dürfen. Deshalb haben alle, die die Erinnerung an die totalitären Vergangenheiten und die Diktaturen lebendig halten, in dem sie sich als Zeitzeugen zur Verfügung stellen, ihre Erinnerungen niedergeschrieben haben, die Gedenkstätten, Schulen und Forschungseinrichtungen mit ihren Interviews unterstützen, unseren Respekt, unsere Sympathie, unsere Zu-Neigung verdient. Sie muten uns, vor allem aber auch immer wieder sich selbst etwas zu, aber aus dieser Zumutung können wir: Mut schöpfen und uns gegenseitig Mut zu sprechen.
Wir werden diesen Mut auch benötigen!
Denn vor einem Jahr schloss Wolfgang Templin an dieser Stelle seinen Festvortrag mit den Worten „Kämen wir hier nicht im europäischen Krisenjahr 2016 zusammen, könnte ich meine Rede mit viel größerem Optimismus schließen.
Doch Nationalismus, Xenophobie, der Appell an nationale Egoismen und Alleingänge oder der Ruf nach Abschaffung der Europäischen Union werden immer lauter. Werden diese Bedrohungen, wenn sie sich verstärken, Europäerinnen und Europäer auf den Plan rufen, eingedenk der erinnerten Vergangenheit? Werden europäische Institutionen ihre Fähigkeit zu Widerstand und Innovation erweisen, nationale und europäische Politiker Konsequenz und Führungsstärke füreinander und nicht gegeneinander zeigen?
Diese Europäische Union steht vor der größten Herausforderung ihrer bisherigen Geschichte. Sie kann durch Egoismus, Schwäche, falsche Nachgiebigkeit, durch interessenbestimmte Anbiederung an Autokraten und Diktatoren der eigenen Kapitulation zutreiben. Sie kann aber auch zur Entschlossenheit finden, dem Rückfall in imperiale Großmachtpolitik zu widerstehen, die zivilen und politischen Kräfte, die ihre Stärke ausmachen zu mobilisieren und auf den Spielregeln eines neuen europäischen Miteinanders zu beharren. Dann wird sie auch ein Hoffnungszeichen für all diejenigen bleiben, die jetzt noch ungewiss vor ihren Türen stehen.“
Auch wenn die Parlamentswahlen in einigen unserer Nachbarländer im vergangenen Jahr nicht die verheerenden Ergebnisse gezeitigt haben, die viele ihnen zugetraut haben, ist die von Wolfgang Templin angesprochene Krise heute keinesfalls überwunden. In der Ukraine fordert ein von Putins Russland leichtfertig angezettelter und bis heute geförderter Konflikt täglich Tote auf jenem Kontinent, der sich einst geschworen hatte „Nie wieder Krieg!“
Demokratische Rechte und Institutionen werden selbst in unserem Nachbarland Polen, aber auch in etlichen anderen europäischen Ländern abgeschafft, beschnitten oder erheblich bedroht. Und der Wahlsieg Donald Trumps zeigt potentiell katastrophale Defizite des demokratischen Systems in der europäisch-amerikanischen Zivilisation an – und das steht übrigens ganz unabhängig davon bereits fest, was uns die Zukunft hier noch bringen wird. Allein die Tatsache, dass ein offenbar notorischer Lügner und eingeschworener Populist auf demokratischem Wege Präsident einer hochgerüsteten Atommacht, aber auch einer der erfahrensten Demokratien der Welt werden kann, ist ein alarmierender Warnschuss, der uns aufschrecken muss. Auch in unserem Land stehen rechte und linke Populisten in den Startlöchern oder stellt sich beinahe täglich die Frage, wie viel Sicherheit wir für die Aufgabe von wie viel Freiheitsrechten zu erkaufen bereit sind. Vor allem stellt sich eindringlich die Frage, wie die Erinnerung an das Übel in Europa lebendig bleiben kann, wenn diese elementar wichtige Aufgabe von der nächsten Generation übernommen werden muss. Angesichts des Krieges mitten in Europa und überall in Europa zu beobachtenden Tendenzen, Demokratie und Freiheitsrechte einzuschränken, ist das vielleicht schwieriger, als wir es uns vorgestellt haben!
Der strahlende Vogel Phönix: Er kann auch wieder verbrennen! In diesem Land wissen wir, dass ein historischer Wimpernschlag genügt, um alles zu zerstören, was in Jahrzehnten und Jahrhunderten errichtet und erreicht wurde. Diese Gefahr schwelt. Besinnen wir uns also auf die Kraft der Erinnerung, die wir lebendig erhalten müssen. Und all die Kraft, die wir für die Erinnerung auch verwenden: Wir erhalten sie tausendfach zurück!
Das einst finstere Gefängnisgebäude mit den wenigen erhaltenen kleinen Zellen, in dem die heutige Frankfurter Gedenkstätte untergebracht ist, in der ich arbeite: Sie hat ihren Ausgang über ein gläsernes Treppenhaus, von dem der Blick über die Oder in die Freiheit gleitet – und über den Strom an der Grenze, die täglich durch Freundschaften, Neugier aufeinander, dem praktischen Handel und Wandel, die Universität auf beiden Seiten sowie der Faszination des Verschiedenen überwunden wird. Meine Gedanken sind heute auch bei den schon älteren Damen und Herren, die ich in der Frankfurter Schwesterstadt S?ubice und in Rzepin getroffen habe und die zu denen gehören, die zwischen 1939 und 1956 nach Sibirien deportiert worden waren; auch sie begehen heute diesen Gedenktag. Sie haben mich mehrfach freundschaftlich aufgenommen, mir erzählt, mir vertraut, ich war ihr Gast: Ihnen möchte ich diesen Vortrag deshalb gerne widmen.
Gegenüber der dunklen Vergangenheit haben wir ein großes Privileg: Wir verlassen heute diese Gedenkstätte, die sich im Herzen Arkadiens befindet, Potsdams Schlösser und Gärten. Atmen wir den Geruch der Freiheit. Leben wir die Zivilisation! Haben wir für die Zukunft – Mut!

Gedenken, Versöhnung und die Werte europäischer Politik

Rede von Wolfgang Templin zum Europäischen Gedenktag 23.08.2016

Heute an einem historisch bedeutsamen Tag, haben wir uns an einem historisch bedeutsamen Ort zusammengefunden, dem zentralen Untersuchungsgefängnis des sowjetischen Militärischen Spionageabwehrdienstes auf dem Territorium der ehemaligen DDR. Der offizielle Name des Gebäudes, vor dem wir uns befinden, täuscht darüber hinweg, dass es bei den deutschen Inhaftierten dieses Gefängnisses und den später dort inhaftierten sowjetischen Militärangehörigen in der übergroßen Mehrzahl nicht um Spione, Diversanten oder NS-Täter ging. Es ging um um Jugendliche und Erwachsene, die wegen vermeintlichen oder tatsächlichen Widerstandes gegen die sowjetische Besatzungsmacht und die mit ihr verbundenen Machtorgane der SBZ- und späteren DDR verhaftet, unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt, ohne die Möglichkeit der Verteidigung abgeurteilt wurden. Zu den Delikten, welcher die Verhafteten- häufig durch Denunziation- beschuldigt wurden, gehörte die angebliche Mitgliedschaft im Werwolf, das Schwänzen des obligatorischen Russisch-Unterrichtes, die Verbreitung politischer Witze aber auch die Verteilung von Flugblättern.
Die Urteile gingen bis hin zu Todesstrafen, die zum großen Teil auch vollstreckt wurden, zu langjährigen Haftstrafen oder zur Deportation nach Sibirien. Zu den Gefängnisschicksalen in der Leistikowstraße gibt es bis heute nur eine weithin unzureichende Materialgrundlage und Dokumentation. Die Schicksale an diesem Ort sind ein winziger Ausschnitt aus den Haft- und Leidensgeschichten deutscher Ableger des internationalen Gulag-Systems.
Wir wollen am 77. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes der Opfer totalitärer Systeme insgesamt gedenken, totalitärer Systeme, deren unheilvolle Entwicklung das Antlitz des letzten Jahrhunderts mitprägte. Eine Zeit, welche als Jahrhundert der Lager, Jahrhundert der Extreme in die Geschichte eingeht.
Menschen aus den Ländern im östlichen Teil Europas, aus Polen, den baltischen Staaten, der Ukraine, welche die Schrecken des deutschen nationalsozialistischen Überfalls, der nachfolgenden nazistischen Vernichtungsmaschinerie und des Holocaust selbst erlebten oder als Teil ihrer Familiengeschichte mit sich trugen, sahen den 23. August seit Jahrzehnten als frühen Kulminationspunkt, der Verbindung nationalsozialistischen und sowjetkommunistischen Terrors. Sowjetische und Deutsche Besetzung, Deutsche und Sowjetische Besetzung und Okkupation, wie auch immer sich die Reihenfolge gestaltete, löschten ab 1939 die kurze eigene staatliche Souveränität aus, brachten Unterdrückung, Deportationen und Terror. Der militärische Sieg der sowjetischen Truppen über die deutsche Wehrmacht wurde zur Befreiung, der erneute Unterdrückung und Unfreiheit folgten. Neben dem 8. Mai 1945 als Tag der Befreiung blieb der 23.August 1939, der den Klammergriff der Totalitarismen symbolisierte, im historischen Bewusstsein mittelosteuropäischer Nationen präsent. Die Auseinandersetzung damit und der Protest gegen das Jalta-Systems, welches einen ganzen Teil des europäischen Kontinents unter sowjetische Herrschaft und Kontrolle brachte, trugen Revolten, Aufstände, Dissidenz und Opposition und nicht zuletzt die politische Massenbewegung der polnischen Solidarnosc. Sie hielten bis zu den friedlichen Befreiungsrevolutionen des Jahres 1989 an. Die sechshundert Kilometer lange Menschenkette, welche am 23. August 1989, die drei baltischen Staaten verband, symbolisierte den ungebrochenen Freiheitswillen unterdrückter Völker.
Nach 1989 rissen die Bemühungen und Initiativen von Menschen aus diesen Ländern nicht ab, den 23. August als Erinnerungsdatum an die dunkelste, jüngste Vergangenheit festzuhalten.
Es waren die Jahre, die in die Wahrnehmung, das Bewusstsein vieler Westeuropäer als Osterweiterung der Europäischen Union eingingen. Für den Osteuropahistoriker Karl Schlögel geht es in dieser Zeit um viel mehr, eine Neukonstituierung Europas.
Die Frage nach dem Stellenwert des 23. August erreichte mit Verzögerung auch die Ebenen des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), auf denen um Entschließungen dazu gerungen wurde. Im Jahre 2008 kam es zu einer Forderung des Europäischen Parlaments, den 23. August zum europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime zu erklären. Dem folgte eine „Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“. Im gleichen Jahr, zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes im August 2009, kam es zu einer Erklärung deutscher zivilgesellschaftlicher Akteure, Intellektueller und Politiker, an deren Entstehung ich selbst beteiligt war. Im Titel der Erklärung werden die historischen Entscheidungsjahre 1939 und 1989 miteinander verbunden:
„Das Jahr 1989 feiern, heißt auch, sich an 1939 erinnern“
Wir führen in dieser Erklärung aus:
„Ein freies und demokratisches Europa muss sich seiner Geschichte bewusst sein. Es braucht die Erinnerung an die kommunistische Ära und ihre Überwindung. Ein erster Schritt ist getan. Im April hat sich das Europäische Parlament erstmalig zu dieser Verantwortung bekannt. Dieser Weg ist weiter zu gehen. Europa braucht eine aktive verantwortungsbewusste Erinnerungskultur, die die nachwachsende Generation für neu aufkommende autoritäre und diktatorische Entwicklungen sensibilisiert“
Trotz des breiten intellektuellen und parteipolitischen Konsens, den die Unterzeichner der Erklärung ausdrücken, gab es zahlreiche Stimmen der Warnung und des Protestes gegen diese Positionen und ihre Konsequenzen.
Die Anwendung des Totalitarismusbegriffs für grundverschiedene politische Systeme, führe zu einer unzulässigen Gleichsetzung, drohe die Unterschiede zwischen ihnen einzuebnen und stelle die Singularität des Holocaust in Frage. Der Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes werde für einen erinnerungspolitischen Deutungskampf missbraucht. Diese Stimmen sind bis heute präsent, wirken in historische Debatten hinein und durchziehen die Auseinandersetzung um die Gedenkstättenkultur in Deutschland. Abwehr und Widerstände gegen die verschiedenen Formen der Totalitarismustheorie haben ihre eigene lange Geschichte. In den intellektuellen und politischen Diskursen der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft galten der Begriff des Totalitarismus und darauf bezogene Konzepte lange Zeit als Domäne der politischen Rechten, als untaugliche politische Kampfinstrumente gegen die im Grundsatz progressive kommunistische Weltbewegung, die sich nur ihrer stalinistischen Schlacken entledigen müsse.
Das Beispiel von Richard Löwenthal, des bedeutenden sozialdemokratischen Politikers, Intellektuellen und Hochschullehrers, kann die Kurzschlüssigkeit solcher Urteile deutlich machen. Eine, von dem Zeithistoriker Mike Schmeitzner gestaltete Dokumentation des Gesprächskreis Geschichte der Friedrich Ebert Stiftung (Heft 96) stellt Leben und Wirken von Richard Löwenthal vor. Ich zitiere:
„Geprägt durch eigene bittere Erfahrungen mit dem Bolschewismus sowjetischer Prägung und dem Nationalsozialismus analysierte Löwenthal diese Ideologien scharfsinnig. Ohne die jeweils andere Diktatur zu bagatellisieren, zu relativieren oder sie miteinander gleichzusetzen, betonte er die besondere Dynamik von Nationalsozialismus und Bolschewismus, die er als totalitäre Revolutionen charakterisierte, um sie fundamental von den demokratischen Entwicklungen im Westen abzugrenzen.“ (Zitat Ende)
Die gleichen Lebenserfahrungen machten Löwenthal aber auch die Schwächen und die Angreifbarkeit der liberalen Demokratien des Westens bewusst, zu denen er sich letztlich bekannte.
Der 1908 in Berlin-Charlottenburg geborene Löwenthal entstammte einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie.
Über seine Verwandtschaftsbeziehung zu einer anderen bedeutenden linken Intellektuellen und Totalitarismustheoretikerin Hannah Arendt, äußert er sich selbst:
„Die Mutter meines Vaters war eine geborene Arendt, eine Schwester des Königsberger Stadtrats diesen Namens, dessen Tochter Hannah Arendt war. Das habe ich erst jetzt, viele Jahre später herausbekommen, nachdem ich sie besser kennengelernt hatte. In der Familie ist offenbar das Interesse am Totalitarismus erblich“.
Als Student an der Berliner Universität wird Löwenthal in den Krisenjahren der Weimarer Republik, Mitglied und schnell führender Funktionär der kommunistischen Studentenfraktion. Das Jahr 1929, welches die Moskau- gesteuerte KPD, mit einer zentral gegen die SPD gerichteten neuen Generallinie sieht – die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten und damit entscheidende Gegner –führt zum ersten Bruch. Löwenthal tritt in die gerade gegründete KPD-Opposition ein und wird später Mitglied der Gruppe „Neu Beginnen“. Ab 1935 findet er sich in Prag wieder, im Zentrum der sozialdemokratisch- sozialistischen Emigration. Schriften aus dieser Zeit zeigen, wie sich sein Totalitarismusbegriff aus der Analyse der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Entwicklung des totalen Führerstaates, der Gleichschaltung aller Teile der deutschen Gesellschaft, bildet. Die zerstörerische Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung, ihr Endziel einer total neu geformten, rassisch vereinheitlichten Volksgemeinschaft, lassen ihn von einer „totalitären Revolution“ sprechen. Bei aller Kritik an den Herrschaftspraktiken und Säuberungsexzessen der Sowjetunion unter Stalin, sieht er dort diesen totalitären Charakter nicht und identifiziert sich mit dem Lenin des Jahres 1921,erklärt den grundlegend progressiven Charakter dieses Gesellschaftsexperimentes.
Für Löwenthals endgültige Desillusionierung und spätere theoretische Konsequenz, werden das Jahr 1939 und der Schock des Hitler-Stalin-Paktes entscheidend. In die Londoner Emigration gegangen, lernt er dort unter anderem Sebastian Haffner, Isaac Deutscher und George Orwell kennen.
Nach seiner Rückkehr nach Deutschland und der Tätigkeit als Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin, wird Löwenthal zu einem der einflussreichsten Vordenker der SPD, früher Biograph von Ernst Reuter, Berater von Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Längst ist für ihn jede Verklärung und Verteidigung des sowjetischen Gesellschaftsexperiments unmöglich geworden, liegt für ihn der totalitäre Charakter Leninschen Denkens und bolschewistischer Herrschaftspraxis unabweisbar zu Tage. Eine Revolution von unten, die im dauerhaften Machtmonopol einer Partei mündet, für den utopischen Endzustand einer klassenlosen Gesellschaft, die physische Ausschaltung aller Klassenfeinde in Kauf nimmt, kann nur als totalitär bestimmt werden.
Löwenthal arbeitet auf dieser Grundlage die Gemeinsamkeiten beider totalitärer Systeme heraus, besteht weiter auf grundlegenden Unterschieden und lehnt, im Gegensatz zu seinem Berliner FU-Kollegen Ernst Nolte, scharf ab, aus der zeitlichen Parallelität der Verbrechen Hitlers und Stalins, eine kausale Beziehung zu folgern. Der Versuch Noltes im „Historikerstreit“, die Untaten Hitlers als Folgereaktion auf die Untaten Stalins zu erklären, erscheint ihm absurd. Noch schärfer lehnt er die Vorstellung ab, Hitlers organisierte Vernichtung von Millionen Juden als eine Art Kopie sowjetischer Massenvernichtung zu betrachten. Hitlers Judenhass, der nationalsozialistische Welteroberungs- und Vernichtungswahn, haben eigene Wurzeln, die in die Tiefen und Untiefen der Deutschen Geschichte zurückreichen. Damit ist auch von der nicht in Frage zu stellenden Singularität des Holocaust auszugehen.
Jürgen Habermas, welcher über den Historikerstreit von 1988 hinaus, skeptisch gegenüber verschiedenen Spielarten der Totalitarismustheorie blieb, vollzog hier eine eigene Entwicklung. In einem vielbeachteten Beitrag für die Enquetekommission des Deutschen Bundestages, die sich der Auseinandersetzung mit der nächsten Diktatur auf deutschem Boden widmete, sprach er von der Chance und konstitutiven Bedeutung eines antitotalitären Konsens aller Demokraten.
„Die Europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstandes“ lautet der Titel eines im Jahre 2000 erschienen Suhrkamp-Bandes“. Der Herausgeber versammelt darin Manifeste, Denkschriften und Konzepte, die in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückreichen, vom Widerstand gegen die nationalsozialistische und kommunistische Bedrohung Zeugnis geben und die Gründerväter der späteren Europäischen Union inspirierten. Neben dem „nie wieder Krieg“ einer künftigen europäischen Friedensordnung, stehen Freiheitsrechte, Werte der Demokratie und sozialer Ausgleich als Fundamente eines Neuanfangs. Anders als bei der verfehlten Nachkriegsordnung von 1918 und konfrontiert mit einer historisch einmaligen deutschen Kriegsschuld und Verbrechenlast, geht es um einen Weg, der den freien Teil Deutschlands in den Kreis der zivilisierten Nationen zurückführt, die Bundesrepublik zum Partner europäischer demokratischer Neugestaltung werden lässt. Ausgleich und Versöhnung markieren hier ein Ziel, dass die realistische Erinnerung, die Erkenntnis und das Eingeständnis eigener Schuld und die darauf bauende Bereitschaft zur Vergebung, zur Voraussetzung hat.
Ohne die deutsch-französische Aussöhnung und Partnerschaft sind der Aufbau und die Ausgestaltung der Europäischen Gemeinschaft und der späteren europäischen Union nicht vorstellbar. Wir sehen die Gestalten von Konrad Adenauer und Charles De Gaulle, sehen die anderen mit diesem Aufbau- und Versöhnungswerk verbundenen europäischen Gründerväter, Staatsmänner und –Frauen, die Jahrestage, Begegnungen und symbolischen Gesten.
Was wir zu oft übersehen, sind die Neugestaltungs- und Versöhnungskräfte von unten, die zahllosen Menschen, welche sich der Last, der eigenen Vergangenheit stellten, ihre individuellen Konsequenzen zogen und die vorher unübersteigbaren Grenzen überwanden.
Gleichsam im Schatten der deutsch-französischen Annäherung und Versöhnung im freien Teil Europas, gab es die immer zahlreicheren Bemühungen und Initiativen, für eine künftige deutsch-polnische Versöhnung. Vielen Zeitgenossen und Beteiligten schien diese Aufgabe noch unlösbarer. In Polen hatte der nationalsozialistische Terror mit unvorstellbarer Grausamkeit gewütet, hatten die deutschen Architekten der Endlösung, Vernichtungslager errichtet. Die polnische Hauptstadt Warschau, ließ Adolf Hitler, von unbezwingbaren Freiheitswillen der Polen im Warschauer Aufstand getroffen, dem Erdboden gleichmachen. Nach dem Krieg mussten Millionen Deutsche dafür mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen.
Freier Austausch und offene Grenzen, die Hilfestellung der Amerikaner beim Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik boten Chancen für Verständigung und Aussöhnung nach Richtung Westen, die der Eiserne Vorhang und für das dahinter liegende Polen und andere Länder im sowjetischen Machtbereich, mehr oder weniger versperrte. Dennoch gelang es, unter ungleich schwereren Bedingungen, bereits vor 1989 zahlreiche Schritte zu tun. Ich will an dieser Stelle nur die gesamtdeutsch wirkende Aktion Sühnezeichen, die zivile Unterstützung der Solidarnosc-Bewegung in den achtziger Jahren und den Kniefall Willy Brandts erwähnen.
Der Fall des Eisernen Vorhanges, der erfolgreiche Reformweg Polens und der anderen ehemaligen Ostblockstaaten, schufen endgültig die Voraussetzung für ein neues Miteinander, das Annäherung und Versöhnung einschloss.
In Deutschland aber zeigte sich, dass Erinnern und Versöhnen nicht auf Verdrängung und verkürzten Schuldzuweisungen aufbauen durften. Dem
„Hitler und die Seinen waren es. Wir anderen haben ja auch nur darunter gelitten“, setzten Opfer, Betroffene und zunehmend auch Historiker eine andere Realität entgegen, die schmerzhaft war, die Familien auseinander bringen konnte und die Scheinruhe der Wirtschaftswunderjahre aufschreckte. Der akademischen Formel von der „heilsamen Kraft des Beschweigens“, stellten sich immer mehr Nachwachsende mit dem Mut zur Wahrheit entgegen. In die junge Bundesrepublik zurückgekehrte Emigranten, sahen sich einer gar nicht schweigenden Mehrheit gegenüber und wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, den „Terror der Bombennächte“ im bequemen Exil ausgesessen zu haben.
Eine Auseinandersetzung, die in der Bundesrepublik Jahrzehnte währte und sie in dieser Zeit zur Demokratie reifen ließ. Unter ungleich leichteren Bedingungen aber mit gar nicht so grundverschiedenen Mustern, spielte sich die Auseinandersetzung mit den Folgen der nächsten Diktatur auf deutschem Boden nach 1989 ab. Viele von Ihnen sind Zeugen und Beteiligte dieser Auseinandersetzung bis zum heutigen Tag. Andere europäische Nationen, welche die Erinnerung an Fremdbestimmung, Okkupation und eigenen Widerstand hochhielten, sich zu Recht als Kriegsopfer sahen, mussten sich dem Problem der Kollaboration und der Mitschuld an der Vernichtung der europäischen Juden stellen. Die erst in den siebziger Jahren zur Europäischen Union hinzukommenden Länder Griechenland, Spanien und Portugal, waren mit ihren zurückliegenden Bürgerkriegen und Militärdiktaturen im Schatten der totalitären Großmächte konfrontiert.
Auf einer noch weiter zurückliegenden aber bis in die Gegenwart reichenden historischen Karte ist die Vergangenheit zahlreicher europäischer Demokratien als Imperien oder Kolonialmächte eingezeichnet. Jede der beteiligten Nationen tat sich mit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit schwer, die auch zur Neudefinition der eigenen Rolle und Verantwortung gegenüber diesen Territorien zwingt
Kämen wir hier nicht im europäischen Krisenjahr 2016 zusammen, könnte ich meine Rede mit viel größerem Optimismus schließen.
Doch Nationalismus, Xenophobie, der Appell an nationale Egoismen und Alleingänge oder der Ruf nach Abschaffung der Europäischen Union werden immer lauter. Werden diese Bedrohungen, wenn sie sich verstärken, Europäerinnen und Europäer auf den Plan rufen, eingedenk der erinnerten Vergangenheit? Werden europäische Institutionen ihre Fähigkeit zu Widerstand und Innovation erweisen, nationale und europäische Politiker Konsequenz und Führungsstärke füreinander und nicht gegeneinander zeigen?
Wladimir Putin versucht, als Herrscher eines neoimperialen Russlands, eine Internationale europäischer und außereuropäischer Autokraten und Diktatoren zu schmieden; die in seinen Augen dekadente und zur Gegenwehr unfähige Europäische Union – ihre amerikanischen Verbündeten eingeschlossen, zu schwächen und ihr zunehmend die Regeln seines eigenen Spiels aufzuzwingen. In seinem Gegenmodell, werden über die Köpfe von Nachbarn und kleineren Nationen hinweg, imperiale Einfluss- und Herrschaftsgebiete abgesteckt, regiert das Recht des Stärkeren, sind Vereinbarungen und Verträge, nicht das Papier wert, auf dem sie stehen. Wem fällt hier nicht die Situation von 1939 ein?
Die Geschichte wiederholt sich nicht, historische Analogien, ob sie das Ende von Weimar, den Zerfall instabiler Demokratien, neue totalitäre Bedrohungen oder Kriegsszenarien betreffen, werden der modernen Realität nicht gerecht. Zu unserer Realität gehört die Existenz der Europäischen Gemeinschaft, der Europäischen Union, die mit der Attraktivität, von Freiheit, Demokratie und sozialem Ausgleich, entscheidenden Anteil daran hatte, dass die Epochenwende von 1989 zustande kam.
Diese Europäische Union steht vor der größten Herausforderung ihrer bisherigen Geschichte. Sie kann durch Egoismus, Schwäche, falsche Nachgiebigkeit, durch interessenbestimmte Anbiederung an Autokraten und Diktatoren der eigenen Kapitulation zutreiben. Sie kann aber auch zur Entschlossenheit finden, dem Rückfall in imperiale Großmachtpolitik zu widerstehen, die zivilen und politischen Kräfte, die ihre Stärke ausmachen zu mobilisieren und auf den Spielregeln eines neuen europäischen Miteinanders zu beharren. Dann wird sie auch ein Hoffnungszeichen, für all diejenigen bleiben, die jetzt noch ungewiss vor ihren Türen stehen.

 

Gedenkstättenverein KGB-Gefängnis